»More topologico demonstriert«. Raumdenken bei Michel Serres, 1974/75

Datum: 17.09.2006

Ort: (Diese Veranstaltung fand in privaten Räumen eines MoMo-Mitglieds statt.)

Mit dem »topological turn« ist ein alter, ein fast schon vergessener Bekannter zurückgekehrt, doch scheint man seine Wiederkehr bislang wenig beachtet zu haben. Fast unbemerkt steht er »im Raum« – der Strukturalismus. Nach langen Jahren poststrukturalistischer Debatten hatte man wohl glauben mögen, dass alles Strukturale sich ins Rhizomatische verwandelt habe und sozusagen in den Wucherungen seiner selbst verschwunden sei. Wer aber heute und in den Humanwissenschaften »Topologie« sagt, gerät unweigerlich an Denkformen, wie sie im französischen Strukturalismus bereits erprobt wurden.

Peter Bexte: Carpaccio

Vittore Carpaccio (1465-1525), Der heilige Stephan predigt in Jerusalem

Erneut – und zugleich: wie gehabt – geht es um die Frage des Raumes und der Topologie als »Diskurs im allgemeinen vom Ort im allgemeinen« (Serres). Um diese Pole kreisen zwei Texte des Michel Serres aus den Jahren 1974/75. Es geht mir dabei erstens um ein Kapitel aus Serres‘ Monographie zu dem Renaissance-Maler Vittore Carpaccio und zweitens um seinen Vortrag »Discours et Parcours«, den er im Seminar von Lévi-Strauss gehalten hat. Der Lektürevorschlag besteht darin, diese beiden unverbundenen Texte zu verbinden. Beide sprechen im Namen des Raumes und mit Begriffen der Topologie. Sie entstanden parallell und kommunizieren ebenso überdeutlich wie untergründig. Der eine zeigt, was der andere nicht sagt, und umgekehrt.

Satellitenphoto einer Wolke, beschriftet von Michel Serres (in: Michel Serres, La Légende des Anges, Paris 1993, 142)

Satellitenphoto einer Wolke, beschriftet von Michel Serres
(in: Michel Serres, La Légende des Anges, Paris 1993, 142)

Die gespaltene Zahlengabe 1974/75 markiert im Übrigen nicht nur einen Jahreswechsel, sondern zeigt weitere Veränderungen an: erstens den Übergang vom Altmeister strukturaler Anthropologie Lévi-Strauss zu einem Jüngeren, den er als einzigen aus der Nachfolgegeneration akzeptiert hat; zweitens die tendenzielle Überschreitung eben jenes strukturalen Erbes in Namen einer Zerstreuung »im Raum«. Die Topologie der Löcher und der Wolken wechselt von strukturalen Dreiecken ins Rhizomatische. Die Spannung dieser Schwellensituation 1974/75 wird vielleicht erst im Rückblick kenntlich. Sie mag einige Defizite im heutigen »topological turn« verdeutlichen.

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