Die Welt als Hochseil (1. Teil)

Zwei Weltgesichter schauen in entgegengesetzte Richtung

Denken zwischen existenziellen Grenzen

Sobald wir Menschen (was offenbar sonst keiner species terrae viva vergönnt ist) mit unserem Denkvermögen über die Bewältigung des Alltäglichen hinausgreifen, neigen wir zu extremalen Bewegungen. Diese verstecken sich hinter so unauffälligen methodischen Gegensätzen wie Analyse versus Synthese (Kant), ideographische versus nomothetische Weltbeschreibung (Windelband), Kosmologie versus Elementarphysik in der Physik oder gar gleich Gott versus Geschöpf in der christlichen Mythologie. Solche Gegensätze markieren intellektuelle Extrempunkte, zwischen denen sich die Welt aufspannt, und zwar erstaunlicherweise auch die nicht-intellektuelle Welt.

Will man nun die allgemeine Struktur eines solchen Denkens zwischen solchen Extrema beschreiben, so fällt auf, dass die besagten Extrema vermutlich den Zweck haben, einen Gestus des Allumfassens nach zwei Seiten zu ermöglichen. Das ist nicht unschlau. Es rücken erhaben darin die Ganzheit einerseits und der Ursprung andererseits in den Blick. Denn das Ganze des überhaupt Gegebenen ist nicht nur Einheit, sondern notwendig komponiert, zusammengesetzt, verschmolzen, integriert aus Teilen und Details, aus Elementen, Regionen, Gliederungen, kurz: aus Differentem von je eigener Quelle. Das soll sich mal selbstverständlich, mal unbegreiflich zur letzten, großen, am Ende gar mystischen Einheit fügen. Der Stammsitz solchen Denkens ist die Religion, und der Ursprung der Religion ist das Erstaunen vor den Kräften der Natur, als wären sie lebendige Wesen unter einer gemeinsamen Herrschaftsidee. In der Philosophie der jüngeren Zeit war es die Mereologie, die sich sehr viel nüchterner diesem Thema widmete. Als Lehre von den Teilen und dem Ganzen ist ihr allerdings nur ein kleines Kämmerchen in dem riesigen Asservatenschatz menschlicher Denkprodukte gewährt worden, und das zu Recht. Sie verkürzt ein großes Rätsel im Handumdrehen auf eine Banalität, bei der es nichts zu gewinnen gibt außer dem, was wir ohnehin schon wissen.

Die Spannpfeiler unserer Welt

Das zugrunde liegende Motiv für jenes extremale Denken ist dagegen ziemlich aufregend und thematisch gänzlich unerledigt. Nicht einmal die Physik hat es bisher zu einer plausiblen Vereinigung ihrer beiden Standardtheorien unseres materiellen Universums gebracht. Auch wenn die Quantenfeldtheorie ein Schritt in diese Richtung sein will, so schüttet sie doch unterwegs das Kind mit dem Bade aus: Die Wirklichkeit geht ihr verloren just in dem Moment, wo wir sie in ein hübsch uniformes Kleid stecken wollen. Ja, leider: Die scheinbare Überwindung der Extreme als Spannpfeiler allen Weltverstehens lässt das Hochseil schlaff zu Boden fallen, auf dem wir uns gerade den größtmöglichen Überblick verschaffen wollten. Und schon stehen wir erneut unversehens dort, wo wir begannen, im Alltag. Ecce homo! Raffe dich auf: Neue Pfeiler, neue Spannung, neues Glück.

Nur eine Disziplin schert hier unbefangen aus, vielleicht sogar ohne es zu merken. Die Mathematik natürlich. Sie ist als Form des Denkens an sich selbst Extrem, weil sie sich ihren Gegenstand, ihre ganze Welt vollkommen unbehelligt von aller Wirklichkeit erschafft. Sie geht den Weg der Wucherung, der freien Schöpfung, die von vornherein Grenzen und Inhalt, Spannung und Einheit uno actu vollzieht. Das Rhizom der Mathematik ist allerdings insofern ein Extremsport, als sie höchste Abstraktion mit kindlicher Schöpfungsfreiheit verbindet. Wieviel ist 1 + 1? Natürlich 3. Wenn Papa und Mama sich lieben, bekommen sie ein Kind, und dann sind sie 3, oder nicht? Der Mathematiker lacht. In seinen Denkbezirken schert man sich um gar nichts Empirisches mehr, schon gar nicht um Mama und Papa. Die Mathematik erfindet ihre eigene Wirklichkeit und beweist sie auch gleich unwiderleglich. Eins und eins ist zwei. Sie rennt uns dabei sogar noch mit erhobenen Näschen voraus und überlässt uns Dümmlingen großzügig, ob wir mit ihren Konstrukten etwas anfangen können, z.B. Computer bauen. Bitte, dann eben Computer.

Wir, die wir aus dem Alltag kommen, erheben uns nur mühsam über ihn. Wir müssen uns erheben, weil wir sonst nicht verstehen, was unsere Existenz überhaupt soll. Denn dass sie einfach ist, wie sie ist, reicht uns nicht. Andererseits ist das wuchernde Denken außerhalb der Mathematik nur selten empfehlenswert. Wir bewundern zwar die karnickelartige Vermehrung technischer Erfindungen, all die gadgets und datamining-Algorithmen um uns herum. Wucherungen des Geistes werden darüber hinaus aber eher als eine Form von Wahnsinn empfunden, als etwas aufdringlich Störendes. Geistige Wucherungen sind in der Regel weder Mathematik noch Wirklichkeitsbewältigung noch – Kunst. A propos, auch die Kunst geht ihre eigenen Wege, natürlich, manchmal jedenfalls. Oft genug geht sie zwar nur den schnöden Weg des Marktes, auch das muss man zugeben. Doch wenn sie wirklich ihr Eigenes sucht, dann verortet sie das menschliche Individuum als spezifisches Detail im Gefüge eines großen Ganzen. Ja, auch das Kunstwerk realisiert in seinen prächtigsten Erscheinungen genau wieder jenen Gestus des Allumfassens, und zwar durch den Künstler und im Rezipienten. Das macht uns dann eine Gänsehaut. Auch die Kunst ist also extremal, aber eben nicht nur im Denken, sondern auch im freien, d.h. schöpferischen Tun. Sie ist Praxis jenseits des Alltags, und das verleiht ihr jenen Glanz der Hoffnung des Entkommens aus dem Gewöhnlichen, Sinnlosen.

Diesseits der Abstraktion: Hoch auf dem Seil...

In ihrer Reinform organisiert sich unser Verhältnis zur Welt am Ende wie das Verhältnis dreier Schwestern zueinander: Naturwissenschaft und Philosophie (zwei Namen einer im Grunde gleichen Denkform), Mathematik und Kunst konkurrieren und ergänzen einander. Jede von ihnen hat ihre eigenen Beschränkungen, ihre spezifische Eitelkeit und natürlich ihre spezifischen Möglichkeiten und sozialen Kräfte hinter sich. Doch erst zusammen spannen sie das Zelt auf, unter dem sich nicht nur hedonistischer oder akribischer oder grausamer oder was sonst immer – vielmehr umfassend sinnhafter Lebensvollzug abspielt. (ws)

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