Aller wahren, guten und schönen Dinge sind drei
Drei Dinge braucht unsere Welt; die Natur, den Geist und die abstrakte Ordnung der Dinge
Kleine Rätselfrage
Was haben Platon, der Kirchenvater Athanasius und Albert Einstein gemeinsam? Antwort: Alle drei erfanden, jeder auf seine Weise, ein äußerst kompaktes, metaphysisisches Modell dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält:
(1) Platon meinte, an der Wurzel allen Seins sei das Wahre, Gute und Schöne noch ungeschieden: Was wahr sei, müsse auch gut und schön sein, und so reihum. Sonst sei die Welt nicht nur unverständlich, sondern auch existenziell instabil. Die Identität des Wahren, Guten und Schönen sei folglich absolut notwendig.
(2) Athanasius , der im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte, griff die schon viel ältere Idee dessen auf, was heute als die christliche Trinitätslehre, also die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes bekannt ist. Er legte damit den Grundstein für das erst später kanonisierte Dogma. Viele Leute haben sich seitdem gefragt, was diese Formel bedeuten soll, und ob es nicht einfach logischer Unsinn sei: Eines, nämlich Gott, könne nicht drei Verschiedenes sein (Gott, sein Sohn und der Heilige Geist). Doch, es kann. Dazu muss man lediglich zwischen dem Einen und seinen Eigenschaften unterscheiden. Unter den vielen Deutungen der Dreifaltigkeitslehre scheint mir diese am plausibelsten: 'Gott' steht für die reale Dynanik der Schöpfung, der 'Heilige Geist' für dere Ordnung, d.h. Beständigkeit durch Konsistenz. Der 'Sohn' ist wiederum die vermittelnde Instanz zwischen der schöpferischen (und unerschöpflichen) Allgewalt und ihrer Konkretion als die reale Welt; sie hält beides zusammen. Das mag kompliziert klingen, ist aber zumindest nicht logisch widersprüchlich.
(3) Albert Einstein schließlich, in einem nicht minder eindrucksvollen Geniestreich, erklärte allen, die es hören wollten (und verstehen konnten, wozu die Nazis nicht gehörten), dass Masse, Raum und Zeit ebenfalls eine Art Dreifaltigkeit seien, allerdings eine physische: In seine Allgemeinen Relativitätstheorie, deren berühmte Quintessenz die Formel E = m · c2 ist, zeigte er, dass sich Masse, Raum und Zeit ineinander umrechnen lassen, sich also wechselseitig definieren und somit an ihrer kosmologischen Wurzel das unterschiedliche Ergebnis ein und desselben Phänomens sind, nämlich der schieren, noch gestaltlosen Energie.
Der große Entwicklungsbogen
Nun kann man über Platon herablassend lächeln, weil seine Trinität des Wahren, Guten und Schönen aus einer merkwürdigen Melange unterschiedlichster kategorialer Elemente besteht, die empirisch kaum Bestand hat. So gibt es leider viel Wahres, was keineswegs gut und schön ist, z.B. die kriminelle Intelligenz, die zu ungeheuren Verbrechen führt, Das Schöne lässt sich auch nur mit Mühe in Wahrheitswerten ausdrücken, und das Schöne ist überhaupt reine Geschmacksache und obendrein kulturabhängig. Dennoch ist Platons Idee nicht einfach falsch oder gar lächerlich. Im Gegenteil: Seine Behauptung entfaltet ihre Durchschlagskraft gerade dadurch, dass sie eine Maxime ist, also eher ein Orientierungspunkt für unser Verhalten, sozusagen ein fernes, praktisch wohl nie ganz erreichbares Ziel einer jeden perfekten sozialen Ordnung. Platons Idee ist also nicht die Behauptung einer gemeinsamen Wurzel des Wahren, Guten und Schönen im Sinne ihres vergangenen Ursprungs, sondern vielmehr die ideale Zukunft menschlicher Existenz. Keine schlechte Idee. Eins zu null für Platon.
Athanasius (und alle jene, die seine Intuition weiter ausarbeiteten) war nüchterner als Platon. Der göttlichen Trinitätsidee fehlt bei genauerem Hinschauen etwas, das bei Platon noch sehr prominent ist, nämlich die Inklusion des Guten. Offenbar war es aber für die frühe Christenheit selbstverständlich, dass ihr Gott ausschließlich das Gute sei. Deshalb brauchte man dies in der Dreifaltigkeitslehre nicht extra zu erwähnen. Deshalb geht es nur um die innere Struktur der christlichen Ontologie; dass sie gut ist, versteht sich sozusagen von selbst. Das Geniale an dieser metaphysichen Idee ist, dass sie, wie schon zuvor Platon und nachher Einstein, etwas zusammenbringt, was zunächst inkommensurabel, weil absolut verschieden erscheint, nämlich die reine Dynamik der Welt und ihre konkrete Gestalt, also das, was diese Dynamik hervorbrachte und permanent hervorbringt. Der metaphysische Akrobat in dieser Geschichte ist Jesus, der Sohn Gottes. Er bringt schließlich auch noch die Moral ins Spiel, insofern sich aus seiner Lehre nicht nur ergibt, was gutes Verhalten und was Sünde ist, sondern produziert sogar seine Selbstopferung zwecks Reinigung der Menschheit von ihrer initialen Sündhaftigkeit. In moderner Ausdrucksweise könnte man dies wie den Garantieservice eines industriellen Herstellers für seine Produkte verstehen: Produktionsmängel der Schöpfung sind nun mal unvermeidlich, am Ende wird aber alles gut. Zwei zu null auch für Athanasius .
Und dann Einstein: Als nicht besonders religiöser Jude zwischen allen Stühlen seiner Zeit, mathematisch nachhilfebedürftig, mit Frauen eher in einem schwierigen Verhältnis, von der hereinbrechenden Quantenmechanik schwer irritiert, aus diesen und weiteren Gründen seiner widersprüchlichen Existenz aber mit einem scharfzüngigen Witz ausgestattet, trifft er wie kein anderer im anbrechenden 20. Jahrhundert den Nagel mit unglaublicher Wuchtauf den Kopf. Und wieder geht es hier um wesentlich mehr als nur um eine physikalische Weltformel (die im Übrigen in der Quantenmechanik einen Konkurrenten hat, deren theoretische Vereinigung bis heute aussteht): Einstein ist, wie schon Platon und Anasthasius, und vermutlich ohne dies gewollt zu haben, einer der größten Metaphysiker aller Zeiten. Denn vor allem die Allgemeine Relativitätstheorie zeigt, dass alle manifesten Strukturen des Kosmos das Ergebnis einer vorgängigen und permanenten Prozesshaftigkeit der Welt sind. Diese Brücke hatte vor ihm noch niemand geschlagen. Drei zu null für Einstein.
Und wir jetzt?
Na gut; aber was bedeutet das alles für uns, die Nicht-Genies dieser Welt, die sich nolens-volens immer wieder in jene über die Jahrtausende generalüberholte Kutsche der Metapyhsik setzen und uns erzählen lassen, wie die Welt 'eigentlich' beschaffen sei? Es bedeutet zweierlei. Ersten müssen wir uns in überhaupt keine metaphysisische Kutsche setzen, sondern könnten - theoretisch - einfach behaupten, wir brauchen solchen Quatsch nicht. Eine bessere Politik und bessere technische Geräte würden es auch tun, um halbwegs zufrieden zu sein. Genau: halbwegs. Zweitens hat es einen tiefen Grund, warum Menschen, und nicht nur die Mitglieder der westlichen Gesellschaften, immer wieder mit großer Begeisterung die ihnen gebotenen metaphysichen Modelle annehmen. Tatsächlich kommt keine Gesellschaft ohne Metaphysik aus. Sie ist der intellektuelle Kern aller stabilen Sozialität. Wer den Gegenbeweis dieser Behauptung antreten möchte, kann dies gerne tun. Es bringt aber nichts, weil es einer Gesellschaft ihres existenziellen, kollektiven Sinns beraubt, wenn man ihre Metaphysik entwertet. Das sollten sich insbesondere alle jene hinter die Ohren schreiben, die auf andere, nicht-westliche Metaphysiken verächtlich herabschauen. Sie 'gewinnen' mit dieser Einstellung nur absolut unversöhnliche Gegner. Das ist sicher nicht gut und auch nicht schön; aber historisch ist es wahr.
Jetzt einmal: Was bedeutet das alles für uns? Einfach gesagt: Es geht nicht nur darum, sich irgendeine Metaphysik zusammenzubasteln und damit seinem eigenen und gemeinsamen Leben irgendeinen Sinn zu verschaffen. Und muss das immer was mit Drei zu tun haben? Nein, natürlich auch das nicht; das ist nur ein historischer Zufall. Es geht vielmehr darum, an der jeweiligen Metaphysik seiner Zeit zu arbeiten. Ständig. Also: Sei auch du ein Platon, ein Ansthasius oder ein Einstein. Du kannst es, und sei dein Beitrag auch noch so klein. Dann wird die Welt tatsächlich irgendwann besser. (ws)