Amartya Sen und der "Krieg der Kulturen"

Eines der wichtigsten Argumente in der schon seit Jahren hitzig geführten Diskussion über angebliche kulturelle Entwicklungsunterschiede und den Primat des Westens in allem, was Demokratie, Toleranz, religiöse Freiheit und Ähnliches angeht, ist die Behauptung, dass bestimmte Kulturen auch für ganz bestimmte - in moralisch gute und schlechte eingeteilte - Menschenbilder und politische Programme stehen. Hiergegen geht Amartya Sen in seinem sehr lesenswerten Buch "Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" an (dtv, 3. Auflage 2015, ISBN: 978-3-423-34601-6) an.

Amartya Sen legt plausibel dar:

  • Jegliches Schubladendenken, durch das man eine große Zahl von Individuen auf ihre Religionszugehörigkeit, Nationalität, Sprache, ihren Kulturkreis und ähnliche Gemeinmerkmale reduziert, tut den betreffenden Menschen schwer Unrecht, und zwar selbst dann, wenn ein statistisch großer Teil der damit eingeschlossenen Menschen äußerlich unter diese Einteilung fällt: Zu groß sind die Binnenunterschiede z.B. innerhalb der muslimischen, christlichen, hinduistischen und sonstiger derartiger Guppen, zu unscharf ist eine solche Kennzeichnung, als dass man damit über ihre angeblichen oder wirklichen Mitglieder irgendeine brauchbare Aussage treffen könnte. Dasselbe gilt selbstverständlich für alle Deutschen, Russen, Chinesen, Amerikaner etc., und natürlich auch für alle Araber, Westeuropäer, Afrikaner und dergleichen Einteilungen mehr.
  • Ferner: Jegliche Aneignung bestimmter kultureller Errungenschaften, die als alleiniges Wesensmerkmal der westlichen Kultur dargestellt wird (worunter man heute üblicherweise West- und Mitteleuropa, mindestens den nordamerikanischen Kontinent, manchmal auch den südamerikanischen, ferner Australien und Neuseeland zählt) ist historisch falsch und politisch äußerst kontraproduktiv.

Es gibt also keinerlei Kampf oder Krieg der Kulturen, wie Samuel Huntington Anfang der 1990er-Jahre behauptete, sondern nur und immer schon den Interessenskampf von Eliten und Machthabern um eine Vergrößerung jeweils ihrer Macht. Diese Kreise - oft vollkommen unabhängig von den obigen Grenzziehungen und Zuschreibungen - nehmen die groben Identitätsraster, mit denen sie die Menschen in ihrem Sinne zu mobilisieren versuchen, lediglich demagogisch in Beschlag. Sie führen die entsprechend "identifizierten" Menschen damit gegeneinander und hoffen allein auf ihren eigenen Gewinn aus solcherlei Kämpfen.

So zeigt Amartya Sen beispielsweise, dass Demokratie, religiöse Toleranz und gesellschaftliche Mitbestimmung keineswegs eine Idee des Westens waren, sondern praktisch überall auf der Welt, insbesondere auch in buddhistischen und islamischen Kulturkreisen, über die Jahrhunderte immer wieder gepredigt und genauso häufig durch Gegenspieler in den eigenen Kreisen versucht wurden zu unterdrücken. Auch das antike Griechenland ist keineswegs ein Vorreiter der sog. abendländischen Kultur, denn die Goten und sonstigen Europäer der damaligen Zeit hatten mit den Griechen nicht das Geringste im Sinn. Vielmehr war das antike Griechenland ausschließlich aus dem persischen und indischen Kulturraum befruchtet und gab seine Entwicklung zu jener Zeit auch praktisch nur dorthin wieder zurück - Alexander zog schließlich nach Osten und nicht nach Westen. Der Westen benimmt sich also sehr arrogant, wenn er - noch dazu mit militärischen Mitteln - den angeblich rückständigen Gegnern anderer Kulturen einzubleuen versucht, was er ihnen alles voraus hat.

Tatsächlich verläuft die Grenzlinie ganz anders, schon solange Menschen um ihre Macht kämpfen: Zu allen historischen Zeiten und in allen Teilen der Welt waren es allein die Vernünftigen, die sich denjenigen entgegenstellten, die sich in ihrer Empörung über "die anderen" hingaben und nicht imstande waren, über den engen Horizont ihrer eigenen Traditionen hinauszuschauen. Die Vernünftigen waren ihren Gegnern allerdings nur auf der Skala der rational basierten Toleranz, der Einsicht in die Relativität der Weltbilder und der Nutzlosigkeit von Gewalt gegenüber Andersdenkenden voraus. Was die Machtfrage betrifft, waren sie keineswegs immer vorneweg: Die solcherart definierten Vernunftigen waren leider zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden häufig in schwerer Bedrängnis. Es gab sie aber überall: in Europa genauso wie im Nahen und fernen Osten und übrigens auch in Afrika (Timbuktu war über Jahrhunderte eines der Gelehrtenzentren der gesamten damals bekannten Welt).

Allen, die angeblich nur für "ihre" religiöse, nationale, kulturelle oder gar rassische Identität streiten und sich entsprechend als Opfer der "anderen" gerieren, sei also gesagt: Ihr werdet missbraucht. Das ist die nüchterne Wahrheit: Es gibt eine Identität in der Form, wie sie von entsprechenden Hitzköpfen vertreten wird, gar nicht, weder im Westen, noch im Osten, noch im Süden. Es gibt nur die manchmal aussichtslos erscheinende, gleichwohl nie abreißende Mühe, der Vernunft in Gestalt des Zuhörens und der nüchternen Einsicht in die Möglichkeit des Andersseins Gehör zu verschaffen.

Das hier Gesagte hat nichts mit jenem wachsweichen Relativismus zu tun, der oft nicht viel mehr ist als Ignoranz gegenüber den realen Konflikten der Welt. Die hier vertretene Vernunft erfordert vielmehr echten Mut. Sie darf sich nicht einschüchtern lassen von professionellen Gefühls- und Identitätsdemagogen. Sie ist schließlich auch die eigentlich pazifistische Haltung unserer Zeit, insofern sie die militärische Gewalt ausschließlich zur Verteidigung gegen die eigene Überwältigung durch die Intoleranz Andersdenkender gelten lässt, niemals als Rechtfertigung eines Angriffs zur "Befreiung" anderer Länder und Kulturen, wie dies z.B. die USA beim Einmarsch im Irak taten ("Wir bringen euch die Demokratie") oder Russland bei der Besetzung der Ostukraine.

Erich Kästner sagte es mit den für ihn typisch drastischen Worte: "Vernunft muss sich jeder selber erwerben. Dummheit pflanzt sich gratis fort." Und Jean Budrillard ermahnte uns vor 20 Jahren ebenfalls: "Lasst euch nicht verführen!" Dem kann ich nur zustimmen

MoMo wünscht einen "guten Rutsch" ins neue und hoffentlich bessere Jahr 2016.

(ws)

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