Bei Habermas: Fehlt da nicht was?

Vernunft und Sinn von Kommunikation: Manchmal im Widerspruch

Im Jahr 1981 erschien von Jürgen Habermas sein zweibändiges Werk Die 'Theorie des kommunikativen Handelns. Deren erster Band trägt den Untertitel: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, der zweite den Titel Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Wie der Gesamttitel und die beiden Untertitel bereits vermuten lassen, dreht sich die von Habermas entwickelte Theorie dieses opus magnum seines Schaffens (und sein mit Abstand einflussreichster Beitrag zur modernen Gesellschaftstheorie) um drei Begriffe, die bei ihm konstituierend für die conditio humana schlechthin sind: Kommunikation - Rationalität - Vernunft.

Nun dürfen wir, wenn wir ein solches Werk mit allem Respekt aus einer Distanz von bereits 35 Jahren betrachten, nicht vergessen, unter welchen Vorzeichen es verfasst wurde. Das Buch wurde zu einer Zeit geschrieben, in der sich West-Deutschland im politischen Umfeld eines sich instiutionell langsam entspannenden 'Kalten Krieges' außenpolitisch in seiner Lage als zentraleuropäisches Kraftzentrum durch ein Verhalten profilierte, das inzwischen auch im Englischen als 'Realipolitik' bezeichnet wird: Man arrangiert sich auf der Grundlage historischer Fakten, und seien diese Fakten zur Zeit ihrer Entstehung auch noch so schwer erträglich gewesen. Für Deutschland manifestierte sich die Unerträglichkeit der Geschichte in einem erst ca. 30 Jahre zuvor beendeten und wahnsinnigen, weil nicht nur monströs aggressiven, sondern darüber hinaus auch noch rassistischen Angriffskrieg nicht nur gegen fast sämtliche seiner Nachbarn, sondern vor allem auch gegen die Grundüberzeugungen gewachsener europäischer Zivilisation. Das Ergebnis hieß (wiederum im Englischen ebenso bezeichnet): Ostpolitik, d.h. Anerkennung des Status Quo der politischen Landkarte von 1945 - 1989.

Begriffe wie 'Vernunft'; 'Rationalität' und 'Kommunikation' gehören vor dem Hintergrund einer solchen, mittlerweile geschichtlichen Bühne auch praktisch unmittelbar zusammen: Hier geht es nicht etwa um das Kommunikationsideal eines Selbsterfahrungszirkels einzelner junger Menschen, die in ihrer WG bei einem Joint im Schneidersitz zusammensitzen und hinter den Gardinen ihrer unisexy langen Haare eine bessere Welt imaginieren, indem sie diskursiv herausfinden, wer wann und wie oft das Geschirr abwaschen soll. Habermas geht es um die große Bühne, um das friedliche Auskommen einer immer noch vorwiegend national strukturierten politischen Welt, deren Narben aus zwei gigantischen Kriegen gerade erst aufgehört hatten zu bluten. Die drei genannten Kernbegriffe der Habermas'schen Gesellschaftstheorie sind aus dieser Perspektive zu verstehen als die drei Wirkstoffe einer Arznei, die die in ihrem kollektiven Geiste ziemlich kranke paneuropäische Gesellschaft aus einem nicht enden wollenden Zirkel geifernder Aggression befreien sollte.

Das Habermas'sche Diskursmodell
Das Habermas'sche Diskursmodell

Wie in jedem guten Märchen - oder auch Krimi - gibt es in diesem Habermas'schen Heilungsnarrativ allerdings noch einen vierten Wirkstoff, der nicht im Titel der beiden Bände erscheint, ja nicht einmal in den Überschriften ihrer Kapitel. Dies ist der heikle Begriff des 'herrschaftsfreien Diskurses'. Wie eine zarte Wunderfee, ja wie etwas gänzlich Weltfremdes schwebt er durch den Text, selten explizit, dafür von der ersten Zeile an das eigentliche moralische Zentrum des gesamten Theorieentwurfs. Panajotis Kondylis hat am Anfang seiner Sozialontologie seinen deutlich berühmteren Kollegen Habermas mit einiger Häme überschüttet, weil die Theorie des kommunikativen Handelns 'in Wirklichkeit' doch nicht viel mehr als eine ziemlich umständliche und verdruckste Moralpredigt sei. Na und?, kann ich darauf nur sagen: Hatte Europa, speziell Deutschland eine solche moralische Reflexion nicht bitter nötig? Eine solche Kritik verfehlt das Thema.

Ist nicht alles egal?

Eine andere Frage drängt sich allerdings auf, die noch existenzieller ist als der Wunsch nach Frieden, so drängend und unabweisbar berechtigt dieser Wunsch zu allen Zeiten auch sein mag. Es ist dies die Frage aller Fragen, die man lapidar in den Worten zusammenfassen könnte: Ist nicht alles egal? - Eine brutale Frage. Der kühle Blick des Historikers ruht jedoch, jedenfalls aus einiger zeitlicher Distanz, immer auf diesem sanften Kissen stoischer, am Ende zynischer Ruhe. Und tut er es nicht, wie beispielsweise Meineke in seinem Buch Die deutsche Katastrophe, in dem er als hoch geachteter Historiker sein Bekenntnis zum (deutschen) Nationalstaat auch noch nach Hitler rechtfertigte, so ist dies ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Grundregeln seiner Zunft, nämlich der Verlust kühler Beobachterneutralität.

Was ist eigentlich nicht egal? Darauf kann ich mit Hermann Schmitz nur sagen: Nicht egal ist einzig das, was uns, d.h. jeden Einzelnen und auch ein ganzes Kollektiv, unmittelbar affektiv betrifft. Unmittelbar ergriffen zu sein ist allerdings weder stoisch korrekt, noch aus buddhistischer Sicht geraten, allerdings auch nicht zynisch. Man ist dafür 'echt', authentisch, unmittelbar, direkt betroffen. Dass diese Art von Betroffenheit im subjektiv geschätzten Durchschnitt meiner eigenen Lebenserfahrung nur ungefähr in 50% der Fälle eine angenehme ist und ich auf die andere Hälfte gerne verzichten würde, aber eben nicht kann, ist eine wichtige Einsicht, wenn es um die Heilung kollektiver Geisteskrankheit geht - und welche Arznei hier helfen kann. Affektive Betroffenheit ist jedenfalls kein empfehlenswerter Wirkstoff in einer solchen Kur; das Risiko der Verschlimmerung des Zustandes der Patienten ist viel zu groß.

Im Gegenteil - und damit sind wir wieder im Zentrum des Habermas'schen Heilungsnarrativs -: Die affektive Betroffenheit gilt es in seiner Diktion zu vermeiden, und wo sie auftritt, sie zu lindern, d.h. sie letztlich grundsätzlich durch ein anderes, aussichtsreicheres Verhalten zu ersetzen. Ein solches besseres Verhalten, zumal wenn es kollektiv geübt wird, zeichnet sich eben durch die drei genannten Merkmale aus: (1) Redet miteinander, und zwar (2) mit klaren Argumenten (also rational) und vor dem Hintergrund (3) einer Orientierung am Gemeinwohl (d.h. vernünftig). Sehr schön, nämlich ganz friedlich. Man könnte auch sagen: Geradezu betäubend, denn wenn alle Affekte, noch dazu unter dem Einfluss der Wunderfee 'Herrschaftsfreiheit', schließlich getilgt sind, ist nicht nur alles unheimlich nett, sondern am Ende leider auch irrelevant. Manchmal ist das kein schlechter Zustand, wie uns der wunderbar sympathische Werbeclip mit Kazim Akboga der Berliner Verkehrsbetriebe zeigt (hier zu sehen). Aber gesellschaftstheoretisch ist eine solche Einstellung doch eher schwer vertretbar, sowohl innen- als auch außenpolitisch.

Die existenzielle Zerreißprobe

Wie aber können wir das Dilemma lösen, das Habermas - vermutlich unwillentlich - aufgezeigt hat? Es lautet auf den Punkt gebracht: Die Menschen werden nur friedlich und somit erträglich, wenn ihr kollektiver Lebenssinn, vermittelt durch unmittelbare affektive Betroffenheit als das, was ihrem gesamten Erleben überhaupt erst seine Relevanz verschafft, ausgemerzt ist. Wir stehen hier also vor zwei Extrema, der leblosen sozialen Leichenhalle reiner diskursiver Vernunft einerseits und dem sehr lebendigen Irrenhaus brüllender Hooligans und religiös verkleideter Menschenschlächter andererseits. Gibt es hier überhaupt eine Mitte, die mehr ist als das angstvolle Zittern eines Nicht-Akrobaten (sprich: des so genannten normalen Menschen) auf einem Hochseil, der nur auf die eine oder andere Seite abstürzen kann, aber niemals die glückliche Balance findet?

Habermas drückte sich in seinem Entwurf wie die moralisierenden Eltern eines durchdrehenden Kindes vor der Einsicht, dass es mit kommunikativer Vernunft allein nicht getan ist. Der Mensch ist über weite Strecken seines Handelns nicht nur nicht vernünftig, nein, er will es auch gar nicht sein! Und er hat zumindest a limine Recht damit, denn reiner Affekt und reine Vernunft sind unversöhnliche Gegner, und rottet man den Affekt insgesamt aus, weil die entsprechende Diskurs-Therapie (wie früher die onkologische Strahlentherapie) leider nicht nur die schlechten, sondern gleich alle Affekte beseitigt, hat am Ende alles wirklich keinen Sinn mehr. Operation gelungen, Patient tot: Alles ist jetzt zwar vernünftig, bringt aber dafür auch nichts mehr.

Wie entkommen wir dieser Zerreißprobe?

Ich möchte mich hier nicht als Meister Lämpel aufspielen, der von den kleinen Berserkern Max und Moritz ohne Rücksicht auf ihre spätere Todesstrafe wegen falscher Gesinnung für die sie bekämpfende, brave Gesellschaft per se steht. Mir kommt allerdings ein Handlungsmodell in den Sinn, das Habermas offenbar übersah, weil es in den Büchern der Autoren, mit denen er sich auseinandersetzt, ebenfalls nicht vorkommt. Ich meine das Zusammenspiel eines improvisierenden Kammerensembles oder einer Jazz-Band. Solche Formationen passen schon deshalb nicht in die Matrix kommunikativer Vernunft im soziologischen Sinne, weil hier eine nicht-verbale Kommunikation herrscht. Dadurch entfällt auch die Möglichkeit argumentativ-rationaler Überzeugung, gar Durchsetzung. Es zählt allein das gelungene Zusammenspiel, und zwar in seiner unmittelbar affektiven Qualität, sowohl für die Musiker als auch für die Zuhörer. Die haben nämlich auch ein Urteil. Was in einem solchen Ensemble als gelungen zu gelten hat, braucht sich keinem ästhetisch absoluten und erst Recht keinem logisch widerspruchsfreien Kriterium zu unterwerfen. Wenn die Musiker ein Interesse an Musik haben, werden sie schon ganz von selbst keine Töne anschlagen, an deren Ende alle Instrumente in Trümmern daliegen und den Spielern ein paar Zähne fehlen.

Die musikalische Gruppenimprovisation als Paradigma einer anderen kommunikativen Vernunft

Zumindest ist mit einem solchen Modell der aufgezeigte Grundwiderspruch zwischen dem Ideal affekt- und herrschaftsfreier Vernunft einerseits und dem Chaos unter der Maxime affektiver Erregung überwunden. Stattdessen steht die als genuss- und gleichzeitig sinnvoll empfundene gemeinsame Handlung im Vordergrund. Sie hat keinen Zweck, der über sie selbst hinausweist. Den verlangt die Gruppenimprovisation aber auch gar nicht. Sie lebt für sich und aus sich heraus: mal gelingt sie besser, mal nicht so gut. Aber immerhin produziert sie einen immanenten Sinn innerhalb der Grenzen zur existenziell letztlich leeren Vernunft einerseits und dem brodelnden Irrsinn wilder Affektion andererseits. Wollen wir es einmal probieren? (ws) 

(Kommentare jederzeit willkommen.)

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