Die Metaphysik, das seltsame Ding

Der erstaunliche Aufstieg der Metaphysik
Oh, hätten Einstein und Bellah doch miteinander reden können...

Alles begann ganz harmlos. Im satten Amerika der 1970er Jahre beherrschte Talcott Parsons die Sozialwissenschaften mit seiner Systemtheorie. Im damals noch ganz braven (West-)Deutschland tat Niklas Luhmann selbiges auf ähnliche und doch ganz andere Art. Richard Dawkins leitete unterdessen im Jahre 1976 mit seinem Buch "Das egoistische Gen" den kommenden Siegeszug der Genforschung in der öffentlichen Debatte ein. Gleichzeitig glaubten sich viele Physiker siegestrunken einer mathematischen Formulierung der Struktur des gesamten Universums zum Greifen nahe. Und überall in der Philosophie der westlichen Welt meißelte die sog. Analytische Philosophie ihre unterbittlichen Dogmen in die Lehrbücher, bis auf Frankreich, wo stattdessen der Strukturalismus das Publikum geißelte. Wir kennen sie noch gut, unsere alten Lehrer und Götter.

Und doch, bei aller Selbstgewissheit in den gesonderten wissenschaftlichen Disziplinen, siehe da: Ein Gespenst ging plötzlich (wieder) um in Europa – das Gespenst der Metaphysik. Alle Mächte des alten Westens hatten sich lange zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, die Päpste der Philosophie und die Zaren der Naturwissenschaften, darwinistische Radikale und positivistische Gedankenpolizisten. - Mit diesen adaptierten Anfangszeilen des "Kommunistischen Manifest" könnte man die Situation bis in jene 1970er Jahre beschreiben. Doch diesmal kamen die Untoten von gänzlich unerwarteter Seite, nämlich aus den USA und teilweise von Leuten, denen man Derartiges eigentlich nicht zugetraut hatte, z.B. Kernphysikern und Politologen.

Während in der Physik zwar noch Leute wie Richard Feynman, immerhin ein gefeierter Nobelpreisträger, keine Gelegenheit ausließen, um philosopher bashing zu betreiben, gab es andere Zeigenossen, denen der kindlich-naive Glaube jener Zeit an das baldige Auffinden einer wahrhaftigen theory of everything (TOE) seltsam vorkam oder die dem Geheimnis der Natur mit einem neuen Holismus zu Leibe rücken wollten, wie z.B. der Elementarphysiker David Bohm (selbst noch ein Zeitgenosse von Niels Bohr und Albert Einstein), der mit seiner Theorie der implicit order nicht nur die gesamte Quantenmechanik auf den Kopf zu stellen versuchte, sondern sich schließlich auch noch mit einer gehörigen Portion Esoterik in den heiligen Gral der Mikrophysik wagte. Bohm wurde mit einem genialischen Beweis seines ehemaligen Apologeten John Stewart Bell weitgehend widerlegt. Doch das Gebäude hagestolzer Selbstgewissheit der Naturwissenschaften zeigte bereits unübersehbare Risse - die disunity der unterschiedlichen Regionen empirischer Welterkenntnis wurde immer offenbarer, und das hieß: Das alte Cartesische und Leibniz'sche Ideal einer Mathesis universalis schien bis zur Ungreifbarkeit zu verpuffen. Die wohlfeilen Proklamationen der Alleserklärer der Sozial- und Naturwissenschaften waren so einfach wohl doch nicht zusammen zu bringen.

Was dann geschah gleicht einer Anweisung aus dem Brettspiel "Monopoly": Gehen Sie zurück auf LOS und ziehen Sie keine 1.000 $ dabei ein. Mit anderen Worten: Noch einmal nachdenken, und zwar gründlich, d.h. genauso leidenschaftlich, wie es die letzten 200 Jahre all die berühmten Köpfe von Newton über Darwin bis Einstein, ein Frege, ein Hilbert, ein Boltzmann und wie die Genies alle hießen, vorgemacht hatten - nur eben: diesmal mit erweitertem Horizont. Bitte.

Jetzt traten, erst vorsichtig, dann mit größerem Selbstbewusstsein, Leute auf den Plan, die - manchmal ohne es zu merken - an den Punkten anknüpften, an denen der europäische Idealismus und seine Nachfahren seinerzeit entgleist waren. Die neue Metaphysik will nichts mehr mit Hegel, Heidegger und Konsorten zu tun haben. Sie kennt deren Texte kaum, und das kann man ihnen nicht einmal vorwerfen. Sie setzen ganz woanders an. Da ist z.B. Colin Wight, ein derzeit in Sydney lehrender Politologe, der mit großem Scharfsinn, wenn auch am Ende unentschlossen, einer neuen Ontologie internationaler Beziehungen nachgeht. Oder: William C. Wimsatt setzt weite Teile des gegenwärtigen Selbstverständnisses der Naturwissenschaften mitsamt ihren alten Modellen und überkommenen Paradigmen der frischen Luft einer schon überfälligen Zusammenschau bis dahin disparater Einsichten aus. Da treten in Deutschland Leute wie Michael Esfeld, Jens Greve und Annette Schnabel auf, die mit erfrischender Unbefangenheit über metaphysische Aspekte der Naturerkenntnis reden, gar eine "Naturphilosophie als Metaphysik der Natur" proklamieren und über neue Ansätze zur Emergenztheorie berichten. Dem erschrockenen Laien tut sich beim Lesen ihrer Bücher der ganze Abgrund an Widersprüchen in den geltenden Standardtheorien des jeweiligen Faches auf. Der im Jahre 2012 verstorbene kommunitaristische Anthropologe Robert N. Bellah zieht gewichtige Verbindungslinien zwischen den Naturwissenschaften und dem, was er "civil religion" nennt. Und Hans Christoph Binswanger, ein weltbekannter Schweizer Nationalökonom, erklärt uns schließlich den Zusammenhang von mittelalterlicher Alchemie, heutigem Papiergeld und der modernen Magie des angeblich unendlichen wirtschaftlichen Wachstums. Wie soll das alles noch zusammengehen?

Doch alle diese Leute sind definitiv keine Idealisten, sondern im logischen Denken höchst geschulte, analytischer Denktradition verpflichtete und auch die Pluralität der Welterklärungen anerkennende Geister, die sich vom eigentlichen Schreckgespenst eines allzu schnellen Rufs nach angeblichen Natur-, sozialen oder ökonomischen Gesetzen, d.h. allgemein: vor dem Dogmatismus der Einzelwissenschaften, nicht fürchten. Sie postulieren nicht in erster Linie neue Wahrheiten, sondern hinterfragen die alten. Ihnen fallen die Bruchlinien zwischen den angeblichen Gewissheiten der Einzelwissenschaften auf, ohne alles dekonstruktivistisch zu zerreden oder gleich in priesterlicher Manier auf rasche Ökumene zu drängen.

Die besagte Tendenz ist immerhin eine, die sogar schon von der FAZ ausgemacht wurde. Der interessierte Leser wird selbst seinen Weg durch den sich auftuenden Dschungel dieses ... nun ja, intellektuellen Abenteuers suchen müssen. Die Mutigen erwartet eine erfrischende, irgendwie auch unbequeme Ungewissheit.

Um den (nicht so ernst gemeinten) revolutionären Tonfall des hier beschriebenen metaphysical turn programmatisch abzurunden, sei allen Philosophen, denen der Witz im Denken noch nicht abhanden gekommen ist, zugerufen:

Allons enfants de la science, de la pensée,
Le défi de la raison va être relevé!

Sohst_Unterschrift

(Leserbriefe, Kritik & Anregungen sind jederzeit willkommen.)

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