Die Sehnsucht der Blume nach der Blüte

Zwei Blumen vor weißem Hintergrund

Der Gedanke ist alt

Aristoteles war die erste Person der westlichen Hemisphäre, die den vermutlich schon viel älteren Gedanken ausarbeitete, dass alles, was es gibt, vom Streben auf ein inneres Bestimmungsziel hin angetrieben sei. Dieser mächtige Gedanke konnte selbst der heutigen Evolutionstheorie, zumindest in unserer landläufigen Vorstellung von ihr, nicht ganz ausgetrieben werden, obwohl zumindest die physische und biologische Evolution theoretisch als eine Kette reiner Zufallsereignisse beschrieben wird. Doch was ist schon Zufall?

Es ist bereits unerklärlich genug, dass es zumindest in der physikalischen Welt so extrem ordentlich zugeht. Für das Elektron beispielsweise sind seine Masse, Ladung und Ruheenergie auf viele Stellen hinter dem Komma absolut exakt festgelegt. Wäre dies nicht so, gäbe es unser gesamtes Universum nicht. Dies ist folglich keine Erfindung der Menschen; sie haben es lediglich entdeckt. Die natürlich Entwicklung des Kosmos hat diese und viele weitere Genauigkeiten seines Gefügen schon früh nach dem so genannten Urknall vollkommen selbständig hervorgebracht. Ihre eigentliche Bedeutung jedoch nahm die Frage nach einer inneren Entwicklungsbestimmung alles Gegebenen - wohl schon in der Frühzeit des Menschen lange vor den ersten historischen Aufzeichnungen - erst an, als sich Menschen verschiedenster Kleinkulturen auf der Erde mit ihrer eigenen Seinsbestimmung zu beschäftigen begannen: Wofür sind wir da?

Von Anfang an war diese Frage offenbar, wie man nicht nur an den Ausführungen des Aristoteles in seinen physikalischen Schriften und seiner Metaphysik, sondern auch an vielen Schriften seiner Nachfolger in diesem Punkt sieht, nicht nur auf eine Seinsbestimmung des Menschen reduzierbar. Der Mensch war und ist Teil der Natur. Wenn aber menschliche Exsistenz einen Sinn haben soll, so muss sich ein solcher Sinn aus ihrer Einbettung in die Natur ergeben. Damit aber muss auch die Natur als Ganze und in jedem einzelnen ihrer Elemente einen Sinn haben. Sonst ist die gesamte Mythologie, die sich um diese Frage dreht, unglaubwürdig.

Der Mensch ist anders

Interessanterweise bringt Aristoteles viele Beispiele für die innere Seinbestimmung der Dinge, nur sehr vage aber für den Menschen. Blumen streben zur Blüte, Marmorblöcke zur Freigabe der in ihnen verborgenen Skulptur (mit Hilfe des Bildhauers). Zwar diente schon seit der Antike die Vorstellung einer metaphysischen Seinsbestimmung auch des Menschen zur Rechtfertigung seiner Einteilung in Stände und hierarchische Schichtungen, vor allem hinsichtlich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollenzuweisungen an Männer und Frauen, aber auch der Rechtfertigung von Sklavenhaltung und der politischen Entmündigung der unteren gesellschaftlichen Schichten.

Der Mensch scheint hier also eine Ausnahme in der gesamten Natur zu sein. Während die Blume zur Blüte, das Tier zu seiner körperlichen Vollendung und womöglich auch alles sonst seiner festen Bestimmung als dieses da (tode tí) zustrebt, d.h. zielsicher seiner Vollendlichkeit (entelecheia) entgegeneilt, scheint beim Menschen nicht recht klar, worin überhaupt seine Vollendung besteht. Denn der Mensch ist nicht als Gattungswesen zielbestimmt, sondern höchstens als Individuum. Die Individuen entwickeln sich aber sehr unterschiedlich. Folglich sagt man von Menschen in ganz verschiedenen Entwicklungsformen, sie hätten ihre Entwicklungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft, sehr häufig beispielsweise in Ansehung ihrer Amts-, Berufs- oder Erwerbsrolle.

Auch wenn der Mensch offensichtlich nicht als Gattungswesen wie die Blumen und Tiere, sondern als Individuum zielbestimmt ist, teilt er mit der übrigen lebendigen Natur aber immerhin die Fähigkeit und den Drang zur Entwicklung. Dieser Drang liegt noch vor jeder konkreten Zielbestimmung. Dieses Ziel im Sinne eines Lebensentwicklungsziels bestimmt sich vielmehr im Lauf des Lebens von selbst. Es muss gar nicht von vornherein bestimmt sein. Ziehen wir uns also lediglich auf einen allgemeinen Entwicklungsdrang alles Lebendigen zurück, wendet sich die Frage, auf den Menschen bezogen, dahin um, wie man ihm seine Entwicklung ermöglichen kann. Weil der Mensch ein symbolisch kommunizierendes und in symbolischen Strukturen gemeinschaftlich existierendes Wesen ist, wird die Suche nach dem jeweils eigenen Entwicklungsziel allerdings ebenfalls auf dem Feld des Symbolischen stattfinden.

Das heißt:

  1. Menschen bedürfen einer besonderen Freiheit, um sich symbolisch entwickeln und ihre Lebenszielvorstellung realisieren zu können.
  2. Diese Freiheit spielt sich zwar auch, aber nicht nur auf dem Gebiet unserer körperlichen Existenz ab. Es ist vor allem die Freiheit des Vorstellungsvermögens, des Denkens und damit der Reflexionsfähigkeit des Erlebten, die uns ermöglicht, jene Kategorien und Wertehierarchien zu bilden, aus denen sich schließlich eine Bestimmung unserer Existenz ergeben kann (aber nicht muss).
  3. Diese mentale Freiheit ist nicht nur passiv erreichbar, indem man beispielsweise Kindern und Erwachsenen keine psychischen Schranken aufzwingt, die ihr Denken und ihre Fantasie behindern. Die Erlaubnis allein reicht nicht. Wir müssen, wenn wir frei sein wollen, unserere Entwicklungspotenziale auszuschöpfen, auch und zuvor sehr viel lernen. Denn unsere kognitiven und mentalen Möglichkeiten brauchen 'Futter', d.h. eine Menge symbolischen Weltstoffs, um daraus neuen und eigenen Lebenssinn erzeugen zu können.
  4. Aber selbst wenn wir uns und insbesondere unseren Kindern aktiv die Voraussetzungen verschaffen, genügt auch das noch nicht, um das einmal bei sich entdeckte Entwicklungsziel (das sich im Laufe des Lebens noch viele Male ändern kann) wirklich zu erreichen. Dazu bedarf es auch einer politischen Struktur, die dem Neuen, der Infragestellung von Konventionen und dem Wettbewerb der Ideen keinen ideologischen Riegel vorschiebt, sondern dies sogar bewusst fördert.

Nur gemeinsam findet jeder sein eigenes Ziel

Damit aber ist die Entelechie, die Vollendlichkeit menschlicher Existenz vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe. Ungefähr in diesem Sinne argumentierte bereits Wilhelm von Humboldt während seiner Zeit als Leiter der Kultursektion des preußischen Innenministerium zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sein Ansatz, stark von den Ideen der Französischen Revolution und dem neuen bürgerlichen Individualismus sowie dem daraus resultierenden Gleichheitsgedanken geprägt, hat an Aktualität nichts verloren. Jedes Kind möchte sich entwickeln, und zwar frei, d.h. nach seinen eigenen Möglichkeiten. Dagegen spricht auch nicht, dass zum positiven Weltwissen, dessen es hierzu bedarf, auch des Wissen und der Praxis im Umgang mit sozialen Regeln bedarf. Normatives Wissen ist nicht nur Einschränkung, sondern vielmehr selbst ein wichtiger Teil der Entwicklungsfreiheit, weil erst die darauf fußende soziale Ordnung die tatsächliche Entwicklung der Individuen ermöglicht und deren Möglichkeiten sogar inhaltlich erweitert.

Lassen wir uns also nicht zu schnell von Zweckforderungen an unser Leben entmutigen. (Fast) jeder Mensch sehnt sich nach seiner individuellen Blüte als voll entwickelte Person, und niemand wird der einzelnen Person sagen oder gar vorschreiben können, was sie am Ende einer solchen Entwicklung zu sein hat. Es ist vielmehr unsere eigene Aufgabe, dies herauszufinden und zu verwirklichen. Das ist gewissermaßen die oberste Pflicht einer Gesellschaft freier Menschen. Dies ist aber eine Pflicht, deren Anpacken schon Lust bereitet und deren Erfüllung die vielleicht tiefste Befriedigung gewährt, die einer Person überhaupt möglich ist, nämlich die Gewissheit eines existenziellen Sinns des eigenen Daseins. So verstehe ich auch den Spruch von Vaclav Havel: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. Die Freiheit der Entwicklung ist die begründete Hoffnung, dies erreichen zu können.

Was wollen wir mehr? (ws)

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