Die unwahrscheinliche Verschwörung

Zu viele Beteiligte: Dieser Plot musste mit überwiegender Wahrscheinlichkeit scheitern
Zu viele Beteiligte: Dieser Plot musste mit überwiegender Wahrscheinlichkeit scheitern

Von Abraham Lincoln ist der Spruch überliefert: "Man kann einige Menschen die ganze Zeit und alle Menschen eine Zeit lang zum Narren halten; aber man kann nicht alle Menschen allezeit zum Narren halten." Dieser Spruch enthält nicht nur eine politisch äußerst relevante Wahrheit. Sie ist sogar mit logischer Notwendigkeit wahr. Das formale Kalkül dahinter ist aber keineswegs nur eine formale Spielerei. Sie ist das mächtigste Argument gegen jegliche Art von globaler Verschwörungstheorie. Im Folgenden will ich kurz versuchen, den formallogischen Hintergrund des Arguments zu beleuchten.

Verschwörungsrtheorien ohne Verschwörung

Verschwörungstheoretiker behaupten auf die verschiedenste Art und Weise im Kern alle dasselbe: Die Welt teile sich in eine große Masse von Menschen, die ihr Leben lang von einer kleiner, heimlich und deshalb illegitim herrschenden Elite manipuliert werde mit dem Ziel, die Weltordnung im Sinne dieser heimlichen Herrschaftselite umzukrempeln. Dazu weisen sie auf zahlreiche, ihrer Meinung nach 'eindeutige' Anzeichen einer solchen Verschwörung hin. Die Beweisführung läuft praktisch immer darauf hinaus, Widersprüche in der offiziellen Darstellung großer Ereignisse aufzuzeigen. Die sollen beweisen, dass die offiziellen Behauptungen erfunden sein müssten, um die Wahrheit zu verbergen. Die Wahrheit sei vielmehr, dass die besagten Ereignisse, z.B. die islamistischen Terrorakte dam 11. September 2001 in New York oder die aktuelle Corona-Krise, 'in Wirklichkeit' von denen geplant und durchgeführt worden sei, die sich als ihre Opfer ausgeben. Letztlich dienten diese Ereignisse, so das Narrativ, der Einschüchterung des weltweiten Publikums, um damit der Machtübernahme näher zu kommen.

Die eingangs zitierte Lincoln'sche Behauptung läuft dagegen darauf hinaus, dass dies unmöglich sei. Nun muss man allerdings vorsichtig sein: Unmöglich mag es nicht sein, dass 'man' (aka: die behauptete heimliche, bösartige Herrschaftselite) alle Menschen ihr ganzes Leben lang täuscht. Es ist aber aus den im Folgenden darzulegenden Gründen so unwahrscheinlich, dass es asymptotisch der Unmöglichkeit nahekommt. Hinter dem Lincoln'schen Spruch steht also ein wahrscheinlichkeitstheoretisches Argument. Es besagt, dass die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften, im Extremfall lebenslangen Täuschung von Menschen mit der Anzahl der hieran beteiligten Menschen abnimmt. Dieses Abnehmen der Wahrscheinlichkeit des Täuschungserfolgs erfolgt kontinuierlich. Das heißt, je mehr Menschen von einem Täuschungsmanöver betroffen sind, desto kürzer ist die Wirkungsdauer des Manövers. Lincoln war nun nicht so unvorsichtig zu behaupten, dass auch für den Fall einer Beteiligung aller Menschen die Dauer der Wirkung eines solchen Täuschungsversuchs gleich null wäre, die Täuschung also vollkommen misslingen würde. Er sagte lediglich, dass die Täuschung dann irgendwann als solche enttarnt und damit wirkungslos würde. Neben einem wahrscheinlichkeitstheoretischen Argument kommt hier also auch die Zeit ins Spiel.

Einmal scharf nachdenken, bitte

Der Lincoln'sche Spruch ist in seinem mathematischen Kern die Behauptung einer statistischen Funktion, deren Ergebnis, abhängig von den Eingangsparametern, eine ungefähre Zeitdauer ist, für die eine Täuschung wahrscheinlich nur wirksam sein kann. Welche Funktions- oder Eingangsparameter hat aber eine solchen Funktion?

Offensichtlich spielt hier die Anzahl der beteiligten Menschen eine wichtige Rolle. Diese Anzahl allein kann aber nicht erklären, wieso umgekehrt, und zwar mit negativ exponentiellem 'Wachstum' (d.h. hier: einem Kleinerwerden) die Wahrscheinlichkeit der Dauer der Täuschungswirksamkeit rasend schnell abnimmt. Es bedarf folglich eines weiteren Parameters unserer Funktion, die dies bewirkt. Diesen Parameter bezeichne ich hier abgekürzt als Freiheitsgrad eines jeden Elements des ersten Funktionsparameters, also der beteiligten Menschen. Der Ausdruck 'Freiheitsgrad' ist hier allerdings als Bündel vieler Freiheiten zu verstehen, die wir im Einzelnen nicht ausführen können. Ein einzelner, genau bestimmter Freiheitsgrad ist wiederum die Dimension einer Veränderungsmöglichkeit, innerhalb derer sich ein Zustand 'bewegen', d.h. von einem Zustand im Zeitpunkt t1 zu einem anderen Zustand im Zeitpunkt t2 verändern kann. Meine Arme haben beispielsweise drei räumliche Freiheitsgrade ihrer Beweglichkeit, die genau den drei Dimensionen des Raumes entsprechen. Unter Menschen sind aber beispielsweise auch die Arten, wie sie sich etwas mitteilen können, ein Freiheitsgrad, dessen Skala man mit drei Werten aufmachen könnte: {mündlich; schriftlich; bildhaft}.

Wahrscheinlichkeitsrechnung als Medizin

Nun wird sehr schnell klar, dass Menschen in ihrem Verhalten sehr viele Freiheitsgrade haben: Freiheiten der räumlichen Bewegung, der zeitlichen Geschwindigkeit, ferner der Arten von Kommunikation, an der sie beteiligt sind, des Umgangs mit Informationen, die sie erhalten, der Einschätzung der Wahrheit oder Falschheit dessen, was ihnen als Tatsache präsentiert wird, der unterschiedlichen Vertrauenswürdigkeit von Informationsquellen, der Deutung von Absichten anderer Beteiligter, und vieles mehr. Am Ende eines solchen permanenten Prozesses des Umgangs mit Informationen aus der Umwelt kommen wir alle zu einem Schluss, d.h. einem Urteil, was im Hinblick auf eine bestimmte Situation der Fall sei. Im extremen Fall betrifft dieser Schluss den Zustand der ganzen Welt. Der Lincoln'sche Spruch zielt genau auf diese Klasse von Schlüssen ab, d.h. auf den Schluss eines Zustandes der gesamten Welt.

Ok, mag sein, könnte man sagen: Aber was hindert - im logischen Sinne - eine Täuschung daran, eben doch alle Menschen für immer hinters Licht zu führen? Nun, etwas ganz Einfaches und gleichzeitig sehr Mächtiges in unserem Denken, nämlich die Abwertung von Widersprüchen. Genau dies ist ja auch der Kern aller Verschwörungstheorien. Sie wollen uns auf die Widersprüchlichkeit der offiziellen Erzählungen hinweisen. Nun hängt die Tauglichkeit eines solchen, an sich sehr starken Argument allerdings davon ab, dass wir eine zumindest deutlich weniger widersprüchliche Geschichte präsentiert bekommen, die wir dann als logisch folgerichtig vorzuziehen hätten. Worauf aber beziehen sich solche Schlüsse, die in ihrer Kombination entweder folgerichtig oder widersprüchlich sind? An ihrer Wurzel beziehen sich solche Schlüsse auf einzelne Tatsachenbehauptungen. Kommen sehr viele, elementare Tatsachenbehauptungen zusammen und bilden in unserem Urteil eine komplexe Gesamttatsache, so ist diese Gesamttatsache in dem Umfange glaubwürdig und taugt damit als eine dauerhafte Überzeugung, wie sie im besten Falle vollkommen widerspruchsfrei ist, im relativ besseren Falle zumindest weniger Widersprüche aufweist als konkurrierende Gesamtdarstellungen.

Politische Meinungsbildung als Gedankenexperiment

Stellen wir uns nun ein kleines Gedankenexperiment vor: Nehmen wir an, wir machten uns die Mühe, unser Urteil über den Weltzustand als Ganzen herunterzubrechen auf eine Unzahl elementarer Tatsachenbehauptungen. Weil dies natürlich niemals vollständig möglich ist, gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass wir uns auf eine immer noch große Zahl relevanter Einzeltatsachen beschränken, deren gemeinsame Wahrheit eine hinreichende Bedingung für die relative Wahrheit und damit Glaubwürdigkeit der Gesamttatsache sind. Zur Überprüfung dieser Elementartatsachen befragen wir in unserem Gedankenexperiment nun alle Menschen, die ebenfalls Kenntnis dieser Elementartatsachen haben, ob sie mit unserer Auffassung dieser Tatsachen übereinstimmen. Im Ergebnis dieser Befragung werden wir eine statistische Schlussfolgerung ziehen, beispielsweise: Ja, fast alle Befragten stimmen mit uns hinsichtlich einer bestimmten Elementartatsache überein, dass es sich so und so verhalten habe. Oder umgekehrt; dann werden wir diese Elementartatsache als Bedingung unseres Schlusses auf die Gesamttatsache streichen. Stellen wir uns nun weiterhin vor, dass alle Menschen auf der Welt permanent und gleichzeitig dieses Gedankenexperiment durchführen und im Ergebnis ganz überwiegend zu demselben Schluss auf eine bestimmte Gesamttatsache kommen.

Mathematisch, und das heißt hier: statistisch, ist dies ein Rechenexperiment mit einer ungeheuer großen Zahl  miteinander gekoppelter Wahrscheinlichkeiten. Eine solche Koppelung von Wahrscheinlichkeiten wird rechnerisch wiederum ausgedrückt als ihre Multiplikation. Wenn jemand beispielsweise in einem starken Sturm auf die Straße geht und sich mit 50%iger Wahrscheinlichkeit zunächst nach link oder rechts wenden wird, gleichzeitig aber auch die gemeinsame Wahrscheinlichkeit aller Laufrichtungen, von einem herabfallenden Ast getroffen zu werden, 50% beträgt, so ist die Gesamtwahrscheinlichkeit, in der einen oder anderen Laufrichtung von einem herabfallenden Ast getroffen zu werden, 0,5 x 0,5 = 0,25, d.h. nur 25%. Treffen zur Berechnung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit aber nicht nur zwei, sondern fast unendlich viele Wahrscheinlichkeiten aufeinander, so ist die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass sehr viele Menschen, die im Zuge einer solchen intuitiven Wahrscheinlichkeitsrechnung zu demselben Gesamtergebnis kommen, nahe 100%, dass die zugrunde gelgegten Elementartatsachen tatsächlich richtig sein müssen. Andernfalls würde die Wahrscheinlichkeit der gefolgterten Gesamttatsache sofort drastisch abnehmen mit der Folge, dass sich gar keine gemeinsame Auffassung des betrefenden Weltzustandes überhaupt bilden könnte. Dies gilt nicht nur für verschwörungstheoretische Umdeutungen historischer Großereignisse. Es gilt schon für so basale Überzeugungen wie derjenigen, dass die Erde rund sei und wir Luft zum Atmen brauchen. Solche allgemein unbestrittenen Auffassungen können sich auf eine so starke und breite Evidenz unzähliger Elementartatsachen berufen, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Unwahrheit praktisch Null ist.

Wenn Wahrheit auf Intuition trifft

Genau dies drückte Lincoln in einem einzigen, genialen Satz aus. Der entfaltet seine intuitive Überzeugungskraft gerade deshalb, weil man ihn gar nicht mathematisch beweisen muss. Wir leiten seine Wahrheit letztlich einfach aus unserer allgemeinen Lebenserfahrung ab. Und das zu Recht. Und zwar mit logischem Recht. (ws)

Zurück