Fühlen & spüren

Magische Darstellung eines eines lichtdurchfluteten Waldes

Wo spielt sich das Fühlen, wo das Spüren ab?

Im Deutschen werden die Verben ‚spüren‘ und ‚fühlen‘ nur undeutlich unterschieden. In ein und demselben Satz kann man sie allerdings meist nicht einfach austauschen. Beispielsweise ist der Satz ‚Ich fühle mich unwohl‘ ohne Umstände verständlich. Sagte jemand dagegen: ‚Ich spüre mich unwohl‘, so würde man sich fragen, was das heißen soll.

Hinter beiden Worten verbirgt sich indes ein wesentlicher Unterschied. Das Spüren ist stärker an die sinnlich-objektive Wahrnehmung gekoppelt als das Fühlen. Beides sind zwar, wie der deutsche Phänomenologe Hermann Schmitz sagen würde, so genannte subjektive Tatsachen, d.h. Sachverhalte, die mit ihrer spezifisch subjektiven Geltung jemand nur im eigenen Namen aussagen kann. Das Spüren bezieht sich aber tendenziell mehr auf eine Wirklichkeit, die man mit den eigenen Sinnesorganen erlebt hat. Das Fühlen bedarf dieser Koppelung viel weniger oder gar nicht. Vermutlich deshalb ist der Spürhund kein Fühlhund. Er spürt vieles; dass er dabei auch etwas fühlt, ist eher unwahrscheinlich.

Keine kleine Sache

Was zunächst wie Haarspalterei klingen mag, hat eine erhebliche soziale und sogar gesellschaftliche Bedeutung. Dies zumindest, wenn eine Gesellschaft sehr individualistisch orientiert ist und subjektive Tatsachen sehr hoch bewertet sind. Das dürfte zumindest auf den gesamten westlichen Kulturraum zutreffen. Ob Pop-Star oder sonstige celebrity, BloggerIn, InfluencerIn oder Instagram-Ikone, sie alle leben davon, ständig ihr Innerstes preiszugeben und so als Rollenvorbilder zu dienen. Daran ist grundsätzlich nichts falsch. Es hat allerdings die bedenkliche Wirkung, dass auch alle übrigen Mitglieder solcher Gesellschaften meinen, ihre subjektiven Äußerungen seien sehr wichtig und sie selbst überhaupt der Nabel der Welt. Wer einmal in einem Kunden-Callcenter für Konsumprodukte oder der telefonischen Hotline eines größeren Konsumentendienstleisters gearbeitet hat, kann ein Lied davon singen, wie sich ein nicht geringer Teil der dortigen Anrufer aufführt. Deren Verhalten lässt sich nur in starken Worten beschreiben, nämlich als empörend, total unverschämt, cholerisch, beleidigend, durchgeknallt. Viele Leute scheinen keine Grenzen mehr zu kennen, wenn es um ihre negativen Gefühle geht.

Die Frage ist nun nicht, warum es viele Leute wagen, sich auf eine Weise zu verhalten, die sie ohne Zögern bei anderen missbilligen. Wenn man davon ausgeht, dass der gesellschaftliche Individualismus ein solches Verhalten als eine Art Kollateralschaden systematisch fördert, ist die  Frage vielmehr, wie sich die eigene Wichtigkeit des Individuums auf eine Weise therapieren ließe, so dass sie zumindest etwas sozialverträglicher wird. Damit kommt der Unterschied zwischen dem Fühlen und dem Spüren ins Spiel.

Außenwelten, Innenwelten

Wer etwas spürt, bekommt etwas von der Außenwelt mit, selbst wenn die eigenen Gefühle gleichzeitig sehr stark sind. Wer nur fühlt, kann sich vollkommen darin verlieren, ohne Rücksicht auf die Umwelt. In der Antike waren solchen entkoppelten emotionalen Ausraster nur in Ausnahmefällen ein Problem, z.B. bei extremer Eifersucht, in den Ekstasen der Rache oder der sexuellen Gier. Rücksichtslose, cholerische Unverschämtheit war nirgends ein Problem, weil die soziale Verbindlichkeit und das Gespür für die jeweils andere Person so stark waren, dass sie sich nicht einfach ignorieren ließen. Das moderne, konsumzentrierte Individuum wirkt dagegen geradezu autistisch selbstbezogen. Es spürt nur noch sich selbst und schaukelt sich bei geringster Provokation in grenzenlos selbstgerechte Gefühlshöhen auf. Die Therapieempfehlung lautet hier: Bitte etwas mehr Gespür, und zwar für die Umwelt, nicht nur für sich selbst.

Meine (empirisch nur aus eigener Erfahrung bestätigte) Vermutung geht aber noch weiter. Ich meine, dass das Fühlen und Spüren in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen: Wer viel und stark fühlt, läuft Gefahr, zu wenig zu spüren, und umgekehrt. Das lässt sich folgendermaßen illustrieren:

Grafische Illustration des Unterschieds von spueren und fühlen

Ziemlich verschieden: Wie sich spüren und fühlen zueinander verhalten:

Dem Spüren haftet etwas Nüchternes, nach außen Orientiertes an, dem Fühlen das Gegenteil. Die nun schon seit mehreren Jahrzehnten so hoch geschätzte coolness ist im Wesentlichen eine Hochschätzung des Gespürs bei gleichzeitiger Disziplinierung des eigenen Gefühls. Gut so. Man kann es nur begrüßen, wenn die Personen unserer Umgebung stärker darüber nachdenken und sprechen, was sie spüren, und weniger, was sie gerade fühlen oder gestern alles fühlten. Denn wer berichtet, was man spürt, spricht von der Welt. Das ist relevant. Wer über seine Gefühle spricht, redet ausschließlich von sich selbst. Und das kann tatsächlich ziemlich unwichtig sein, so schmerzhaft dies auch in den Ohren starkfühlender Menschen klingen mag. Die individualistische Konsumgesellschaft kann auch zu einer Gesellschaft von Narzissten verkommen. Daran hätten wir alle keinen Spaß. Denn nichts ist für Narzissten ärgerlicher als die Begegnung mit ihresgleichen.

Trainieren wir uns also etwas mehr im Spüren, so wie wir auch unser körperliches Wohlbefinden durch Sport aufrechterhalten. Denn es geht nicht nur um unseren Körper, unsere Einzigartigkeit, sondern auch darum, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir uns gegenseitig besser wahrnehmen und dadurch auch besser verstehen. Das ist nicht nur cool, sondern fühlt sich sogar richtig gut an. (ws)

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