Gerechtigkeit

Gerechtigkeit: Viele Kräfte zerren an einer leeren Mitte
Gerechtigkeit: Viele Kräfte zerren an einer leeren Mitte

Der Begriff der Gerechtigkeit gehört zu den empfindichsten Stücken im Begriffsinventar einer jeglichen Auffassung von Gesellschaft. Viel ist darüber geschrieben worden. Doch nur wenige Meinungen schauen über den Tellerrand ihrer jeweils aktuellen ideologischen und historischen Voraussetzungen hinaus. Dies betrifft insbesondere die in den aktuellen Gerechtigkeitsdebatten weithin ausgeblendeten, obwohl gesicherten ethnologischen und rechtsanthropologischen Erkenntnisse. Dieses Wissen ist wohlgemerkt empirisch basiert und kann schon deshalb eine stärkere Geltung beanspruchen als zumindest überwiegend subjektiv-ideologisch motivierte Theorien.

Arten der Gerechtigkeit

Schon die grundsätzlichste Kategorisierung der verschiedenen Arten von Gerechtigkeit ist in aktuellen Diskussionen fast nirgends anzutreffen. Wir müssen aus Gründen in der Kulturgeschichte des Menschen, die sehr weit zurückreichen, immer unterscheiden zwischen

  • Teilhabegerechtigkeit: Art und Umfang der Einwirkungsmöglichkeit von Individuen oder Gruppen auf die soziale Struktur des ganzen Kollektivs
  • Strafgerechtigkeit: Höhe, Art und Angemessenheit der Bestrafung von Individuen oder Gruppen für die Verletzung anerkannter Verhaltensnormen oder, allgemeiner, die enttäuschte kollektive Verhaltenserwartung
  • Verteilungsgerechtigkeit: Ansprüche betreffend die Verteilung von Produktionsüberschüssen innerhalb des Kollektivs unabhängig davon, wer diese Überschüsse erwirtschaftet hat.

Mancher ist hier vielleicht versucht, alle drei dieser Grundformen von Gerechtigkeit auf einen einzigen Ursprung zurückzuführen. Eine solche Bemühung dürfte nicht besonders fruchtbar sein. Viel wichtiger ist es, ihre Unterschiede im Ursprung und der Form ihrer jeweils aktuellen Begründung und Geltendmachung herauszuarbeiten. Dennoch ist die Frage legitim, ob es nicht zumindest Merkmale aller dieser Formen von Gerechtigkeit gibt, dies es rechtfertigen, sie überhaupt unter den zentralen Begriff 'Gerechtigkeit' zu subsumieren. Eine Antwort auf diese Frage fällt allerdings relativ dürr aus. Zunächst einmal ist der alltägliche Gebrauch des Wortes 'Gerechtigkeit' zu beachten. Der zeigt nämlich, dass von Gerechtigkeit immer dann die Rede ist, wenn Menschen Ansprüche im eigenen oder fremden Namen erheben, oft mit einem ordentlichen Schuss Empörung gewürzt. Während es bei der Teilhabe- und der Verteilungsgerechtigkeit jedoch um einen möglichen Ausgleich von Unterschieden realer sozialer Ungleichheit geht, ist die Strafgerechtigkeit offenbar ganz anderer Natur. Hier scheint das Grundmotiv des Strafanspruchs bereits an sich, d.h. unabhängig von Art und Höhe der Strafe, subjektiv die reine Empörung über die Normverletzung, objektiv die Sorge um die Stabilität und letztlich den Fortbestand des gesamten Kollektivs zu sein. Während also Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit meist eine sozialentropische Wirkungsrichtung haben, insofern sie von den Anspruchstellern immer auf den Ausgleich von Unterschieden abzielen, basiert die Strafgerechtigkeit primär auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Verletzungsschäden und deren Wiedergutmachung.

Beim Begriff der Gerechtigkeit scheint es sich somit eher um einen Fall der von Wittgenstein so genannten Familienähnlichkeit zu handeln, d.h. um einen Begriff, der auf Phänomene angewandt wird, die keine gemeinsame Schnittmenge an Eigenschaften oder Merkmalen aufweisen. Allein diese Einsicht ist eine wichtige Voraussetzung für jede Diskussion über Gerechtigkeit.

Der Unterschied von Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit

Tatsächlich geht es in solchen Diskussionen aber ohnehin meist direkt oder indirekt nur um eine ganz bestimmte der oben genannten Gerechtigkeitarten oder -forderungen. In grundsätzlichen politischen Auseinandersetzungen wird die Teilhabegerechtigkeit im Vordergrund stehen. Sie ist auch tatsächlich fundamentaler als die Verteilungsgerechtigkeit, insofern eine einmal etablierte gesellschaftliche Herrschaftsstruktur auch die daran anschließenden Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit stark determiniert. Man betrachte nur die Auffassungsunterschiede zwischen den USA und großen Teilen Festlandeuropas in dieser Frage. Sie lassen sich nur durch Rekurs auf bestimmte politische Grundauffassungen verstehen, die in beiden Kulturräumen historisch gewachsen sind und sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten deutlich auseinander entwickelt haben.

Politische Teilhabe- und materielle Verteilungsgerechtigkeit haben somit zwar eine gemeinsame sozialentropische Stoßrichtung, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Formationsstufen. Lediglich in den noch nicht sesshaften Jäger- und Sammlerkulturen fallen Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit mehr oder weniger zusammen, weil mangels ausgeprägterer gesellschaftlicher Strukturen die Möglichkeit zur politischen Teilhabe ohnehin nur marginal gegeben ist. Diese beiden Gerechtigkeitsarten unterscheiden sich ferner darin, dass die Forderung politischer Teilhabe primär mit dem Begriff der Gestaltungsfreiheit von Individuen oder Einflussgruppen verbunden ist, also mit dem Prinzip der Autonomie, während die Verteilungsgerechtigkeit letztlich auf einem Konsumanspruch betreffend die bereits erwirtschafteten Überschüsse oder die Mittel zu ihrer Produktion. Wir sehen daran, dass auch hier ein riesiger Unterschied in der Begründung und damit einer der möglichen Legitimität solcher Ansprüche besteht.

Das Gefühl, diese mächtige Waffe

In all diesen Aspekten verschiedener Formen von Gerechtigkeit kommt allerdings ein subjektives Moment zu kurz, das ähnlich wie das Bedürfnis nach Freiheit so tief und emotional so unmittelbar bei vielen Menschen verankert scheint, dass man von einer anthropologischen Konstante zu sprechen geneigt ist. Dies ist das Mitgefühl, d.h. die affektive Ausbreitung eines subjektiven Zustandes einzelner oder mehrerer Menschen auf andere, ursprünglich nicht von den Umständen der betrachteten Individuen betroffenen Menschen. In jüngerer Zeit ist viel von Spiegelneuronen und ähnlichen neurobiologischen Grundlagen eines solchen Mitgefühls die Rede. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mitgefühl ein sonderbar heterogenes soziales Phänomen ist, das sich einerseits schon oft bei Tieren, und zwar sogar über Artgrenzen hinweg, findet, andererseits selbst zwischen verschiedenen menschlichen Kulturen oft höchst unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Beim Mitgefühl scheint es sich also um ein Phänomen zu handeln, das zwar grundsätzlich aber einer gewissen biologischen Entwicklungshöhe möglich zu sein scheint, aber keineswegs immer in gleicher Form und Stärke auftreten muss und insbesondere unter Menschen auch stark kulturabhängig zu sein scheint.

Wer sich also auf das Mitgefühl zur Begründung seiner Forderung an politische Teihabe oder materielle Verteilung von Überschüssen beruft, bewegt sich grundsätzlich auf dünnem Eis, was meist dazu führt, dass ideologische Einseitigkeiten, wiederum gewürzt mit angeblicher Selbstverständlichkeit und Empörung über deren Leugnung, zur Verstärkung der je eigenen Position herangezogen werden. Das ist nun keineswegs verboten - wer sollte es auch verbieten -, wohl aber müssen sich Diskursteilnehmer, die über Gerechtigkeit streiten, gefallen lassen, wenn man sie auf solche argumentativen Mannöver hinweist. Dagegen schützt sie auch ihre emotionale Erregung nicht.

Mäßigung

Was bedeutet aber nun all dies, wo es doch recht relativierend und sogar diskursentropisch zu wirken scheint, für den alltäglichen kleinen und großen Streit um Gerechtigkeit? Es bedeutet am Ende nur eines: Man sei bescheiden, wenn es um die Gewissheit der eigenen Position geht. Tatsächlich ist die einzige verbleibende Möglichkeit, wenn sich keine anthropologischen, moralischen oder sonstigen Gewissheiten ausmachen lassen, auf die man sich berufen kann, jene der Einigung. Vollziehbare, d.h. institutionell gestützte und durchgesetzte Gerechtigkeit ist nur auf der Basis eines ausreichend starken Konsens möglich, niemals durch Berufung auf normative Absolutheit, auf welche Quelle sie sich auch immer stützen will. Es gibt sie nicht. Die konkrete Einigung im Streit über Teilhabe, Verteilung und letztlich auch über Strafe gibt es allerdings schon, sofern die Beteiligten nur wollen. Sie setzt lediglich Mäßigung voraus, Verzicht auf alle Maximaliforderungen, seien sie religiös, wirtschaftlich, anthropologisch oder gar biologisch begründet. Das Mäßigungsgebot ist somit eine praktische Metaregel. Sie beruht letztlich auf der Einsicht, dass sozialer Frieden niemals allein durch Berufung auf normative Ansprüche allein zu erreichen ist, und schon gar nicht durch den Trick einer Umdeutung normativer Forderungen in empirische Tatsachen.

Der Begriff der Gerechtigkeit dreht sich meistens - direkt oder indirekt - um eine Forderung nach Besserung der aktuellen Verhältnisse. Aus dieser Differenz von Sein und Sollen bezieht er seine ganze emotionale Kraft. Wie wir aber schon lange wissen, gehören das Sollen und das Sein zu grundsätzlich verschiedenen Kategorien des Gegebenen: Was irgendwie sein soll, ist es deshalb noch lange nicht tatsächlich so und wird es vielleicht auch niemals werden. Und was irgendwie bereits der Fall ist, soll allein deshalb noch lange nicht irgendwie anders sein. Das ist eine ziemlich ernüchternde, ideologisch vollkommen leere Feststellung. Sie zu widerlegen dürfte schwer sein. Mäßigen wir uns also in unseren Forderungen, dann wird Einigung möglich, und damit auch Gerechtigkeit. (ws)

(Wolfgang Sohst ist Autor auf ResearchGate. Seine Aufsätze zur Metapyhsik und Sozialphilosophie finden Sie hier.)

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