Wahrheit und Revolution

Die ewige Wiederkehr des postfaktischen Albtraums
Die ewige Wiederkehr des postfaktischen Albtraums

Es gibt empfindliche Wörter. Das vielleicht sensibelste von allen, und dies keineswegs nur im Deutschen, ist vermutlich jenes der Wahrheit. Denn die Unterscheidung zwischen wahr und falsch - und zwar nicht etwa logisch oder formal, sondern im Alltag - gehört zu den sozial relevantesten überhaupt. Das bekommt jeder zu spüren, der frivolerweise meint, hiermit 'spielerisch' umgehen zu können.

Wer als Zeuge im Gerichtssaal unter Eid lügt, muss mit schwerer Strafe rechnen, desgleichen alle jene, die dabei erwischt werden, eine 'kreative' (sprich: falsche) Steuererklärung abzugeben. Schon Kinder, die lügen, müssen mit ähnlich harter Reaktion seitens ihrer Eltern und Lehrer rechnen wie als wenn sie gewalttätig werden. Das hat seine Berechtigung: Lügen ist eine Form von Vergewaltigung, nämlicher jener der Wirklichkeit.

Der Kampf um die Deutungshoheit sozialer Wirklichkeit

Nur: Was ist wirklich? Was ist folglich wahr? Zwar haben wir im sozialen Umgang nicht die geringsten Schwierigkeiten, den größten Teil dessen, was jeder von uns als wahr und folglich als wirklich erfährt, durch unsere Nachbarn bestätigt zu sehen. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass es die Menschen gibt, mit denen wir kommunizieren; dass wir auf der Erde leben und welche Kleider wir anhaben; dass wir essen müssen, um nicht zu verhungern etc. Das eine Prozent, oder vielleicht auch nur eine Promill unserer lebenswirklichen Umstände aber, dass den Grenzstreifen zur freieren interpretation der Wirklichkeit bildet, kann sehr schnell so wichtig und geradezu entzündlich werden, dass es alle anderen Gemeinsamkeiten unserer Weltauffassung mühelos verdrängt. Dazu gehören in erster Linie alle Überzeugungen der Geltung sozialer Normen, sei es in Form der Auslegung formaler Gesetze oder des Bestehens moralischer Verhaltensregeln. Diese wiederum amalgamieren in den Köpfen vieler erwachsener Menschen zu Ideologien der anzustrebenden Weltbeschaffenheit in toto. Wenn solche politischen Weltbilder, seien sie säkular oder religiös geartet, sich in größeren Kollektiven verfestigen, ist kaum ein Kraut gewachsen, sie zu korrigieren. Dann bedarf es schon einer nicht nur militärischen, sondern auch intellektuellen bedingungslosen Kapitulation, um eine kollektive Änderung des Weltbildes in überschaubaren Zeiträumen herbeizuführen.

Nun gibt es das merkwürdige geschichtliche Phänomen, dass über Generationen als wahr anerkannte Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens plötzlich falsch werden, warum auch immer. Die Vertreter der 'alten' Wahrheit werden dann regelmäßig als Volksverräter und ähnliches betrachtet und mit entsprechender Wut verfolgt. Das nennt man Revolution. Die Wut auf die ehemaligen Vertreter kollektiver Wahrheit, die plötzlich als Lügner entlarvt werden, ist selten milde. Sie endet häufig nicht nur mit dem Tod der wichtigsten Repräsentanten des Alten, sondern gleich mit der Ausrottung aller derer, die als ihre Anhänger ausgemacht wurden. Frankreich im Jahre 1789 und Russland im Jahre 1917 sind nur die bekanntesten Beispiele. Auch Hitler war in diesem Sinne ein Revolutionär. Und Libyen befindet sich nach Gaddhafis Tod immer noch im Bürgerkrieg, und ob Herr Assad denjenigen in seinem Land überlebt, ist noch nicht ausgemacht.

Allerdings ist der Ausbruch einer Revolution keineswegs nur ein intellektueller Kampf um die Wahrheit, sondern meistens und zuvorderst ein materieller. Darin dürfte Karl Marx Recht gehabt haben. Dennoch spielt die Vergewaltigung der Wahrheit auch hier eine zentrale Rolle. So geht einer politischen Revolution häufig ein kollektives 'Erwachen' voraus, von den eigenen Eliten schändlich betrogen worden zu sein. Dann betreten wie aus dem Nichts revolutionäre Helden die Bühne. Dieses kollektive 'Erwachen' betrifft zunächst nur die oberste Schicht der Wahrheit, d.h. das intensive Gefühl des Betruges durch die Repräsentanten der Macht. Doch machen wir uns nichts vor: Die Eliten einer Gesellschaft haben schon immer, so lange wir zurückschauen können und in welche Kultur wir auch blicken, die kollektive Wirklichkeit so 'zurechtgestutzt', wie es ihnen am meisten nützt. Die solcherart elitär zur Wahrheit erklärte Weltdeutung kann Jahrhunderte praktisch unbestritten gültig sein. Wenn aber die Diskrepanz zu den 99% der unbestritten dieser Auffassung zugrunde liegende Tatsachen zu groß wird, wenn also das Gummiseil ihres Verhältnisses überspannt wird, dann reißt es mit einem Knall.

Wehe, wenn das Seil reißt

Einem solchen Punkt scheint sich das westliche Gesellschaftsbild mit seinem tiefen Glauben an den egoistischen Wettbewerb zum Wohle der Gesellschaft (Adam Smith), den angeblich unaufhaltbaren gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung eines nebulösen End-Guten (in freier Übersetzung der biblischen Eschatologie) und der angeblich letztlich immer dominierenden Vernunft des Menschen (schon Sokrates deutete böses in irrtümliches Verhalten um) gefährlich zu nähern. Wenn ein gewalttätig schwadronierender Milliardär zum Präsidenten der irdischen Hegemonialmacht gewählt wird, wenn eine Ansammlung aus Farages, Orbáns, Le Pens, Kaczynskis und Petrys auch in Europa dem liberalen Denken offen mit Exekution droht, dann stützt sich ihre Erfolgschance wesentlich darauf, dass sie den bisherigen Eliten Verlogenheit vorwerfen kann. Erst dann und sozusagen auf diesem initialen Trittbrett lässt sich auch die Keimschicht aller gesellschaftlichen Wahrheit angreifen, nämlich jene der Geltung gewachsener kollektiver Ideale und Werte. Also Obacht, all ihr Geld- und Machthaber dieser Welt in Wirtschaft und Politik: treibt eure Frechheiten nicht zu weit. Die Geschichte sollte euch gründlich lehren, was dann passiert. Und meist geht der Kreis der Opfer gewalttätiger Revolutionen weit über die Angehörigen der unmittelbaren Eliten hinaus. Am Ende ist der immense Schaden nirgends durch die ursprünglichen Aufstandsmotive zu rechtfertigen. Denn man hätte die jeweiligen Ziele auch anders erreichen können - wenn sie denn durch die jeweilige Revolution überhaupt realisiert wurden.

Wir sehen gerade in den USA, wie sich erst über Jahre die gesellschaftlichen Spannungen immer weiter aufbauen, der Waffenbesitz zunimmt, die politischen Fronten sich immer mehr verhärten. Am Ende genügt der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, um das ganze Land, gar die ganze westliche Hemisphäre, im revolutionären Orkan versinken zu lassen. Aber auch die chinesische Staatsführung und Herr Putin in 'seinem' Lande treiben die frivole Unaufrichtigkeit in bis vor Kurzem noch unvorstellbare Höhen. Ihr alle seid durch eure eigene Geschichte gewarnt: Ewig geht das nicht, selbst dann nicht, wenn man zunächst relativ erfolgreich Gehirnwäsche per Internet betreibt. Wer sich grenzenlos an der Arbeit anderer bereichert, wer offenen Raub als Form des Wirtschaftens verkauft, wer seine Gesellschaft durch Korruption in den Bankrott treibt, wer politische Gegner einsperrt, foltert und tötet und dann noch behauptet, er sei ein sozialer Wohltäter, der lebt gefährlich. Denn wenn die Unaufrichtigkeit der Eliten erst einmal festgestellt ist, dann bricht auch das Weltbild zusammen, das sie trägt.

Man kann über alles reden, sogar über die Veränderung von Weltbildern. Diese Möglichkeit endet aber, sobald der Sturm einmal losgebrochen ist. Remember, remember, the 5th of November. (ws)

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