Wenn die Zeit stehenbleibt

 

Alles geht und nichts geht mehr

Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Zeit gerade das ist, was nicht stillstehen kann. Ob das stimmt, hängt aber gerade davon ab, ob man sie nicht auch anders verstehen kann. Das wiederum wird wesentlich bestimmt durch den psychischen und sozialen Zusammenhang, in dem wir uns gerade befinden. Die Bedeutung der Zeit ist aber nicht nur eine technische, psychologische oder soziale, sondern auch eine politische Frage. Denn wer als PolitikerIn keine Zeit hat, gegen andere Länder Krieg zu führen, wird wahrscheinlich auch keinen beginnen. Und wer als PolitikerIn keine Zeit hat, sich aufrichtig um das Gemeinwohl zu kümmern, weil sie oder er zu sehr mit der eigenen Bereicherung oder der Unterdrückung oder gar dem Umbringen von Konkurrenten um die Macht beschäftigt ist, wird hoffentlich auch bald keine Zeit mehr haben, überhaupt noch als PolitikerIn tätig zu sein.

Mehr als der einfache Lauf der Zeit ist ihre Beschleunigung. Wie aber wirkt eine Beschleunigung der gesellschaftlichen Zeit auf uns? Es gehört zu den am häufigsten bemerkten Merkmalen der Moderne, schon von Charlie Chaplin vor knapp einhundert Jahren in seinem Film "Modern Times" persifliert, dass sich unser gesellschaftliches Leben ständig schneller zu drehen scheint. Das mag nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs noch eine gewisse Faszination bei all denen ausgelöst haben, die ihn überlebt hatten, so insbesondere in der Kunst des Futurismus, aber auch in vielen Werken der Literatur jener Zeit. Ernst Jünger war in seinem bekanntesten Buch "In Stahlgewittern" sogar schon während des vorangehenden Weltkriegs von all der Geschäftigkeit maschinellen Tötens begeistert. Generell wird diese permanente Beschleunigung des Lebens, wesentlich getragen von der Leistung immer mächtigerer Maschinen, aber und zu Recht eher als beängstigend und vor allem als erschöpfend empfunden

Der Mensch überholt sich selbst

Das mag daran liegen, dass Maschinen, inzwischen insbesondere die logischen Maschinen, uns nicht nur Arbeiten abnehmen, die wir inzwischen nicht mehr auch nur entfernt selbst zu leisten imstande sind. Sie wirken auf uns als Forderung zurück, mit ihnen irgendwie mitzuhalten, uns eben zu beschleunigen, als ginge es um einen nie endenden, unentscheidbaren Wettbewerb. Aber mit welchem Ziel? Um welchen Preis? Mit wem konkurrieren wir eigentlich, einmal abgesehen vom wirtschaftlich und sozial konkreten Nachbarn, der uns und wir ihn überholen wollen?

Man sollte ein neues Verkehrszeichen erfinden, und zwar nicht nur für den Straßenverkehr, sondern für den allgemeinen Verkehr der Menschen untereinander, aufzustellen beispielsweise in öffentlichen Räumen, Behörden, auf Kirchtürmen, in den Schächten der U-Bahn und als Pop-Up bei jedem Öffnen unseres Email-Programms oder eines Social-Media-Kanals. Es sollte lauten: ACHTUNG: DROHENDE ERSCHÖPFUNG! Die Wirklichkeit ist leider schon weiter fortgeschritten als ein solches Schild suggerieren würde. Wir sind nämlich bereits kollektiv deutlich erschöpfter, als wir wahrhaben wollen. Es ist, als ob wir allesamt von einer Art Long-Covid befallen sind, dessen Erreger wir allerdings selbst sind und kein teuflischer Virus. Wir selbst sind die gefallenen Engel, also die Teufel, die sich zurück nach dem Paradies sehnen und sich dabei immer tiefer in die Hölle ihres selbstgeschaffenen irdischen Daseins graben. Kein Gott hat uns über den Rand des siebten Himmels auf die Erde gestürzt. Denn es gibt weder einen Gott noch einen Himmel. Die Hölle dagegen schon. Darwin meinte cool, das habe sich quasi von selbst ergeben, Evolution eben, stupid.

Geile Fremdbestimmung?

Unsere kollektive Erschöpfung - sofern ich sie mir nicht nur einbilde - ist aber keineswegs naturgegeben und unserer Selbstbestimmung entzogen. Die Großen Apotheker unserer Zeit, die uns dagegen eine höchst wirksame Arznei empfehlen, sind allerdings keine Chemiker mehr, sondern IT-Unternehmer und Tech-Gurus. Künstliche Intelligenz, Super-Rechner. Quantencomputer, Blockchains, selbstfahrende Autos, Raketen zu den umliegenden Planeten und Ähnliches verheißen uns neue Möglichkeiten, möchten gleichsam die gesamte Menschheit in lauter Kolumbusse verwandeln, die nicht nur einmal, sondern dauernd und unablässig neue Welten entdecken. Wie Kinder in einem unendlichen Disney-Park sollen wir staunend durch das Faszinosum des immer Unbegreiflicheren, Schnelleren, Stärkeren, mit einem Wort: Besseren rasen, um zum letzten, letztendlichen, schließlichen, wirklich abschließenden kollektiven Seelenheil zu gelangen.

Ich würde auf solche Angebote lakonisch das erwidern, was man schon früher zu selbsternannten Wunderheilern auf den Märkten des Mittelalters und der frühen Neuzeit sagte: Ihr seid Quacksalber. Auf Englisch nennt man solche Leute salespeople of snake oil. Sie verkaufen Hoffnung, und die verkauft sich heute ungefähr genauso gut wir zur Zeit der großen Pest im 14. Jahrhundert. Das Drittel der europäischen Bevölkerung, das damals dem 'Schwarzen Tod' zum Opfer fiel, könnte bald wieder, diesmal weltweit, in Gestalt der ökologischen Katastrophe einer Entwicklung erliegen, in die wir geraten, wenn wir wie eine einmotorige, stotternde Cessna in einen gewaltigen Wirbelsturm hineinfliegen. Keine gute Aussicht.

Kollektive Selbstbestimmung? Gibt's das überhaupt?

Wir brauchen kein snake oil, sondern Besinnung. Dazu wäre es vielleicht gar nicht schlecht, einmal alle Uhren auf der Welt anzuhalten. Weil das nicht möglich ist, müssen wir uns leider etwas anderes überlegen, um nicht das kollektive Opfer rücksichtsloser Wachstumsfanatiker und vor lauter Geld schon ganz blinder Superreicher zu werden. Solche Eiferer, und natürlich auch jene, die vor lauter Machtgeilheit am liebsten ein paar Millionen Menschenleben opfern würden, nur um selbst auf Lebenszeit PräsidentIn irgendeines Landes zu werden oder zu bleiben, müssen wir bremsen. Das allein genügt allerdings nicht. Ein solches politisches Handlungsmotiv ist nur negativ geprägt. Es mündet deshalb sehr leicht in Verzweiflung und letztlich Hass und Terror. Es bedarf der Stärkung öffentlicher Institutionen der kollektiven Selbstreflexion, die nicht vom Wettbewerb derer geprägt sind, die sich ohnehin schon immer in der Sonne öffentlicher Aufmerksamkeit aalen. MoMo will so etwas sein.

Dafür brauchen wir, jede(r) Einzelne von uns, vor allem Zeit, eine gewisse Ruhe, eine minimale Erholung von der Erschöpfung, die sich überall ausbreitet, ein Wiederaufladen unserer persönlichen Batterien, ein Zurücktreten vom alltäglichen Lärm der Marktschreier, egal ob als so genannte Populisten, als Tech-Gurus oder politische Wunderheiler. Lasst uns reden, während wir die Zeit anhalten. Langsam reden, spüren, was, wo und wer wir sind. Die Zeit steht still. Wir werden wieder gesund. (ws)

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