Michael Tomasello: Menschwerdung

Der neueste Beitrag von Michael Tomasello, "Becoming Human: A Theory of Ontogeny" (The Belknap Press of Harvard University Press, Boston, MA, 2019), ist nicht nur eine Zusammenfassung seiner neunzehnjährigen Arbeit in der Abteilung für Vergleichende Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Es ist auch in wesentlicher Hinsicht eine Weiterführung seines bisher entwickelten Modells der Ontogenese des Menschen.

Das Buch liefert zunächst in zehn Kapiteln eine teils funktional, teils entwicklungschronologisch gegliederter Übersicht über die Entwicklung vor allem des menschlichen Babys bis ungefähr zum sechsten Lebensjahr (nur wenige der vielen Forschungsergebnisse, die Tomasello zitiert, gehen auch über diese Altersstufe hinaus). Der zweite Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Vergleich mit der Entwicklung von sog. Menschenaffen (deren bessere englische Bezeichnung "great apes" lautet). Atemberaubend an der sehr flüssigen und ohne jeglichen Fachjargon auskommenden Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes auf diesem Gebiet, zu dem auch Tomasello selbst durch zahlreiche empirische Untersuchungen viel beigetragen hat, ist das enorm fundierte und dadurch außerordentlich plausible Gesamtbild, das sich aus den vielen und weltweiten Beiträgen anderer Forscher zu diesem Thema ergibt.

Zusammenfassend, wenn auch nicht vollständig, lassen sich die besonderen, biologisch und kulturell entwickelten Unterschiede zwischen der Kognition menschlicher Individuen und anderen Primaten einerseits und menschlicher Sozialität zur Primatensozialität andererseits wie folgt beschreiben. Nur Menschen verfügen über diese Fähigkeiten:

  • Gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention) auf ein Drittes, z.B. einen Gegenstand oder einen Vorgang.
  • Einnahme einer anderen Perspektive als der eigenen (perspective taking)
  • Kooperative / hinweisende Gestik (cooperative / referential gestures)
  • Konventionsbasierte sprachliche Kommunikation (conventional linguistic communication)
  • Nachahmung anderer durch Rollenumkehrung (role reversal imitation)
  • Verhaltenskonformität durch Normeninternalisierung
  • Pädagogisch instruierendes Unterrichten und entsprechendes Lernen
  • Rekursives Nachdenken über das eigene Verhalten ("Ich weiß von dir, dass Du von mir weißt, dass...")
  • Kooperative Problemlösung auf der Grundlage eines kollektiv vorgegebenen Handlungsziels durch entsprechende, flexible Rollenverteilung
  • Koordinierte Entscheidungsfindung auf der Basis kollektiv etablierter Begründungsregeln
  • Zwei-Ebenen-Kooperation (dual-level collaboration): Gleichzeitige Handlungsabstimmung im Hinblick auf die jeweils individuell-eigenen und die kollektiven Interessen
  • Gegenseitig-gemeinsame Verbindlichkeit (joint commitment, in der weiteren ontogenetischen Entwicklung ausgebaut zum collective commitment)
  • Auf den Fremdzweck bezogene Hilfestellung, d.h. nicht unmittelbare Erfüllung des Wunsches anderer, sondern Wunscherfüllung in Ansehung des fremden Handlungsziels, auch wenn dies vom unmittelbaren Wunsch des anderen abweicht (sog. 'paternalistische Hilfe', paternalistic help)
  • ein Sinn für Fairness und Gerechtigkeit, der infolge der Identifizierung des Selbst mit dem Anderen deutlich über das je eigene Interesse hinausgeht
  • Protest und Regeldurchsetzung auch bei eigennutzneutralen Regelverstößen anderer Beteiligter
  • Vergleichender Umgang mit eigenen und fremden Umwelteindrücken (active impression management)
  • Ausprägung von moralischer Identität auf individueller und kollektiver Ebene.

Das Besondere der Nachweise für die ontogenetisch reguläre Ausprägung dieser Fähigkeiten ist ihre empirisch sich gegenseitig stützende Vielfalt von vergleichenden Versuchen sowohl an Menschen als auch vor allem an Schimpansen und Bonobos (allerdings kaum an anderen als sehr intelligent eingestuften Tieren wie z.B. Meeressäugern und bestimmten Vogelarten). Tomasello betont hier immer wieder, dass die tyische und abgegriffene nature/nurture-Debatte, d.h. die Frage, wieviel im menschlichen Verhalten angeboren und wieviel kulturell erworben ist, nicht den Punkt trifft. Im menschlichen Individuum ist offenbar vieles angelegt, muss aber zu seiner Entwicklung auch angeregt werden. Dies bezeichnet Tomasello als 'Reifung' (maturation). Dem gegenüber steht der zusätzliche und ausschließlich kulturell vermittelte Verhaltensfundus, den Tomasello als 'erfahrungsbasiert' (based on experience) bezeichnet.

Soweit, so gut - sehr gut sogar. Michael Tomasello Anspruch geht in diesem Buch in einem Punkte allerdings deutlich über seine früheren Beiträge hinaus: Er versucht mit seiner Zusammenschau der aktuellen Forschungsergebnisse nunmehr ein Gesamtbild der conditio humana zu entwerfen, oder anders gesagt: menschlicher Sozialität überhaupt. Sein entwicklungspsychologischer Ausgangspunkt ist das Modell von Lew Semjonowitsch Wygotski, der in den frühen 1930er-Jahren ein eigenes sozialpsychologische Entwicklungsmodell des Menschen entwarf, das weniger in der Tradition von Durkheim und Weber und auch nicht auf der phänomenologischen Linie seines Zeitgenossen Alfred Schütz, sondern eher in der Nähe des Modells von G.H. Mead lag. Tomasellos theoretischer Anspruch reicht allerdings weiter als nur die Ontogenese des jungen Menschen nachzuvollziehen. Damit betritt er sozialphilosophisches Terrain. Hier könnte man seinen Standpunkt am ehesten als einen kontraktualistischen à la John Rawls beschreiben in Kombination mit einer kantischen Pflichtenethik in der Fassung von Christine Korsgaard, einer bekannten amerikanischen Ethikerin (die von Tomasello auch häufiger zitiert wird).

Hier entsteht nun ein Problem insofern, als Tomasello die menschliche Entwicklung nur von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr, damit allerdings nicht die menschliche Sozialität insgesamt und in ihrer Variabilität beschreibt. Darin muss an sich überhaupt kein Nachteil seines Modells liegen, sofern er etwas deutlicher zu erkennen gäbe, dass die sich entwickelnde moralische Integrität des Kindes (allein und in Gruppen von Kindern und mit Erwachsenen) mit dem Älterwerden keineswegs mehr in diesem moralisch kristallklaren Zustand bleibt. Der Mensch ist weder individuell noch kollektiv ein über seine gesamte Biographie hinweg konsistent bleibendes und moralisch 'sauberes' Lebewesen. Er ist moralisch vielmehr häufig ziemlich 'schmutzig', d.h. intellektuell unordentlich, zu sich selbst und anderen unaufrichtig, selbstsüchtig und häufig überhaupt nicht vernünftig und kooperativ, sondern höchst aggressiv und irrational.

Tomasello schließt in gewisser Weise, zwar nicht explizit, aber doch ohne Erwähnung der Schattenseiten menschlicher Sozialität und ihrer kaum durchdringlichen Komplexität, deshalb von der normalen Kindesentwicklung auf einen kollektiven Idealzustand, der leider praktisch nirgendwo wirklich anzutreffen ist. Sein Modell ist in dieser Hinsicht eher ein Wunschprogramm, insofern er zeigt, dass der Mensch theoretisch, d.h. in Ansehung seiner normalen Entwicklungsmöglichkeiten, eine ideale Gesellschaft bilden könnte. Er tut es aber nicht, sondern bringt stattdessen auf kollektiver Ebene jede Menge Irrationalität und selbstschädigender Aggression hervor. Nun ist dies wohl nicht einfach die Folge von "Störungen", die dummerweise selbst bei idealen Entwicklungsbedingungen in jedem Kollektiv auftreten, so wie auch jedes andere menschliche Artefakt, sei dies ein Buch mit den unvermeidlichen Druckfehlern oder ein Softwareprogramm mit seinen ebenso unvermeidlichen Programmfehlern, im Laufe der Zeit immer weiter bis hin zur Erreichung des Idealzustandes verbessert werden kann. Wenn die Dinge so einfach lägen, könnten wir jeden Abend fröhlich ins Bett gehen, weil die Welt sich mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum nächsten Morgen schon wieder ein Stückchen verbessert hat und folglich eines Tages wirklich perfekt sein wird.

Eine solche Auffassung ist naiv. Reale menschliche Sozialität ist nicht nur ein gestörtes Ideal, das es von seinen Störungen zu befreien und damit die reinen Wurzeln genuiner Menschlichkeit freizulegen gilt - irgendwann werde sie sicher ihre ideale Reinheit erreichen. Die Probleme liegen vermutlich bereits in den Wurzeln. Davon ist in Tomasellos Modell leider etwas zu wenig die Rede. Nach der Lektüre seines Buches kann man - durchaus mit Recht - nur in staunende Bewunderung verfallen, wozu der Mensch imstande wäre, wenn er auch nach dem sechsten Lebensjahr so toll weitermachen würde wie bis dahin. Er tut es aber nicht. Da gibt es offenbar diese dumme Bruchstelle des Menschseins am Ende des Wunders der psychosozialen Evolution, d.h. nach Überschreiten der Schwelle des sechsten Lebensjahrs in die Wirren und Schrecken kollektiver Wirklichkeit. Die blendet Tomasello aus, oder vielmehr endet sein Modell bei Annäherung an diese Schwelle. Sein Modell verwandelt sich damit in ein Wunschprogramm menschlicher Sozialität - allerdings eines, das es wert ist, nicht nur weiter geträumt, sondern realisiert zu werden. In diesem Sinne ist Tomasellos neuester Beitrag eine optimistische und empirisch sehr plausibel unterfütterte Aufforderung, 'uns' (bei aller Fraglichkeit des Gebrauchs des Kollektivsingulars 'Mensch', sobald es nicht nur um das biologische Individuum, sondern um soziale Strukturen geht) doch endlich in jene Richtung zu bewegen, die doch so viele Menschen als Kinder bereits so erfolgreich eingeschlagen haben. Es spricht hier letztlich mit naturwissenschaftlicher Autorität die säkularisierte Sehnsucht nach dem moralisch perfekten und damit irgendwie gottgleichen Menschen. Michael Tomasello verschafft ihr mit seinem Buch neue und durchaus machtvolle Geltung.

Übersetzt in die moderne Auffassung, dass ein solches Ideal nicht einfach gegeben, aber qua Entwicklung doch immerhin erreichbar sei, ist sein Beitrag aus sozialphilosophischer Sicht eine Erneuerung des alten Strohhalms eines Glaubens an die sichere moralische Entwicklung auch der menschlichen Gesellschaft als Ganzes. Der moralische Fortschritt als Idee scheint also noch nicht ganz verloren zu sein. Michael Tomasello Beitrag zur Menschwerdung ist, so gesehen und ohne Gott oder Götter, ein Lichtstrahl der Hoffnung in das chaotische Dunkel historischer und immer noch allgegenwärtiger sozialer Wirklichkeit. (ws, 03.08.2019).


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