Rainer Forst / Klaus Günther: Normative Ordnungen

Die ultimative Mannigfaltigkeit?
Die ultimative Mannigfaltigkeit?

Bereits im Jahr 2006 beschloss die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Einrichtung eines so genannten Exzellenzclusters, d.h. einer interdisziplinären Initiative, die im Rahmen einer entsprechenden Finanzierung des Bundes und der Länder langzeitfinanziert wurde. Die Früchte dieses Großprojekts sind im Netz dokumentiert. Nach der Herausgabe einiger kleinerer Beitragssammlungen im Campus Verlag, die sich auf einzelne Perspektiven normativer Ordnungen konzentrieren, ist nun bei Suhrkamp ein umfangreicher Sammelband erschienen, der mehrere der allgemeinen Fragestellungen des Clusters in einzelnen Beitragsgruppen zusammenfasst und der Öffentlichkeit vorstellt (Rainer Forst / Klaus Günther [Hg.]: Normative Ordnungen, Reihe: stw Bd. 2342, Berlin 2021, 671 Seiten).

Die Beiträge des Bandes gliedern sich in vier Gruppen, die als Fragen formuliert sind:
I. Die Ambivalenz normativer Ordnungen: Was gilt?
II. Die Universalität normativer Ordnungen: Was gilt wo?
III. Die Performativität normativer Ordnungen: Wer erzählt was und wie?
IV. Die Dynamik und Fragilität normativer Ordnungen: Wer ordnet was?

Die Beitragenden sind durchgängig Professor*innen deutscher Universitäten, unter ihnen so bekannte Namen wie Jürgen Habermas, Axel Honneth, Rainer Forst, Klaus Günther, Martin Saar, Christoph Menke, Hartmut Leppin und viele weitere. Ihre Themen überspannen in jeder Hinsicht einen nahezu unabgrenzbaren Themenbereich. Während beispielsweise Jürgen Habermas über das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit in der Entwicklung dieser Begriffe zwischen Kant und Marx referiert, Martin Saar sich zur Immanenz von Normativität äußert, Nikita Dhawan die Aufklärung vor den Eruopäer*innen zu retten versucht, geht der Beitrag von Hartmut Leppin auf die Rolle des spätantiken Bischofs Rabblua von Edessa bei der Formung des christlichen Menschenbildes ein; Susanne Schröter denkt über den Dschihadismus, seine historischen Wurzeln und theologischen Rechtfertigungen nach; Angela Keppler und Martin Seel beleuchten die Rolle des Dokumentarfilms in der Rechtfertigung oder Kritik normativer Ordnungen; Klaus Günther und in ähnlicher Perspektive auch Christoph Burchard kritisieren die technoiden Utopien automatisierter Rechtsordnungen; Darrel Moellendorf tastet schließlich das schwer greifbare Gefühl oder den Zustand der Hoffnung auf seine normative Haltbarkeit ab. Und noch viel mehr aus weiteren Bereichen, Disziplinen und Perspektiven enthält der Band.

Die Werksammlung wird der selbst gestellten Aufgabe des besagten Exzellenzclusters damit durchaus gerecht. Es liefert ein veritables Feuerwerk an Antworten auf die Frage: "Wie etablieren und verändern sich politische, rechtliche, religiöse oder ökonomische Ordnungen, wie kristallisieren sich daraus Herrschaftsstrukturen, wie verteilen sich Macht und Lebenschancen – auch auf transnationaler Ebene?", so die einleitende Selbstdarstellung des Forschungsverbundes auf seiner oben genannten Webseite. Alle Beiträge zeichnen sich entsprechend der hohen Qualifikation ihrer Autoren durch eine sehr differenzierte und fundierte Sachkenntnis des aktuellen Forschungsstandes aus. Ein fachlicher Schwerpunkt liegt - was bei dem Wort 'Norm' im Namen des Exzellenzclusters nicht verwundert - auf rechtswissenschaftlichen Ansätzen. Etwas zu kurz kommt aus meiner Sicht die sozialontologische Perspektive. Denn ein so umfassender Pool von Perspektiven auf das Thema 'Normative Ordnungen' löst vielleicht nicht nur bei mir den Wunsch aus, auch den ontologischen und anthropologischen Wurzeln von Normativität etwas mehr auf den Grund zu gehen. Das kommt nur sehr indirekt zur Sprache, und zwar in der III. Abteilung unter dem etwas rätselhaften Titel "Die Performativität normativer Ordnungen: Wer erzählt was und wie?"

Das systematische Hauptproblem nicht speziell dieses Buches, sondern im Grunde bereits des gesamten Exzellenzclusters, liegt in dieser freischwebenden Vielfalt, die sich nicht recht unter einen Begriff bringen lässt, insbesondere nicht unter den extrem weiten Begriff "normative Ordnungen". Denn so, wie das Buch die Arbeit des Forschungsverbundes präsentiert, drängt sich der Verdacht auf, dass der Ausdruck "normative Ordnungen" nur ein neues Etikett für das ist, dass bisher unter der weniger spektakuären, dafür aber deutlich verständlicheren Bezeichnung "soziale Ordnung" figuriert. Denn soziale Ordnung ist ohne öffentliche geltende Regeln nicht denkbar, insofern also wesentlich normativ geprägt, geht aber begrifflich weit darüber hinaus. Und so auch dieses Buch: Es geht nicht etwa nur um formale oder informelle Normativität, sondern um Sittlichkeit, Moral, Religion, Geschichte, das Urheberrecht, Gehorsam & Auflehnung, Herrschaftskrisen, Medienwirkung, die Selbstreflexion der europäischen Moderne, die Gefahr der Künstlichen Intelligenz für die Demokratie, den Foucault'schen Begriff der Normalisierung und vieles mehr. Damit gerät das Buch an den Rand einer sozialwissenschaftlichen Wundertüte: Da ist viel zu entdecken, aber der Inhalt scheint eher zufällig zusammengewürfelt.

Die Wundertüte wird in einigen Beiträgen allerdings durchaus zum Feuerwerk. Der Beitrag von Jens Steffek über die Umdeutung internationaler Regierungspraktiken in populistische Narrative, die links wie rechts zu ähnlichen Verkürzungen führen, ist erfrischend. Axel Honneths Text über das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit - gleich am Anfang hinter dem Kopfbeitrag von Jürgen Habermas - bringt tatsächlich etwas mehr Transparenz in ein "komplexes Wechselverhältnis". Der von Sighard Neckel in düsteren Farben gezeichnete "planetarische Katastrophismus", der langsam aber sicher in unser aller Gehirne hinaufkriecht, lässt jede Selbstberuhigung wie Eis in der Sonne schmelzen. Kurz vor Ende seines Beitrages lässt er den Leser wie auf dem Monopoly-Spielbrett lakonisch auf "Los" zurückkehren: "Die Ausgangsfrage der modernen politischen Theorie ist ja die Frage, wie eine soziale Ordnung möglich ist." Schon richtig; so gesehen begann die Moderne allerdings schon vor 2.500 Jahren, und nicht nur in Europa, sondern auch in China und Ägypten. Also zurück auf "Los", ganz an den Anfang der ältesten aller Fragen.

Zum Schluss noch ein kleiner Rat an die Herausgeber solcher Werke: Es wäre eine große Unterstützung für den Leser, der zwischen den vielen, auseinander driftenden Texten herumpaddelt, wenn die Beitragenden etwas stärker auf andere Beiträge desselben Bandes Bezug nähmen. So gewinnt man den Eindruck, dass da jede*r Professor*in ihren Text im eigenen Kämmerlein schrieb, am Schluss per Email an die Herausgeber schickte und fertig. Einige der Beiträge in dem Abschnitt, wo es um Eurozentrismus und den falschen Stolz auf die Aufklärung geht, widersprechen einander diametral. Da weiß man als Leser nicht mehr, was eigentlich einen Forschungs"verbund" ausmacht, wenn die Teilnehmer nicht einmal auf die augenfälligsten Einwände ihrer Fachkollegen gegen ihre jeweilige Position eingehen.

Also: Der Band ist lesenswert. Als Schrotschuss in die aktuelle gesellschaftliche Stimmungslage trifft er viele Themen, bei denen es sehr zu begrüßen ist, dass ihnen neuerlich Aufmerksamkeit zuteil wird. Nächstes Mal aber bitte nicht nur schicke Abschnittsüberschriften erfinden, liebe Herausgeber, sondern sich noch etwas mehr Arbeit machen und die Herde der Beitragenden etwas enger zusammentreiben. Dann kann man als Leser auch mit dem großen Titel "Normative Ordnungen" am Ende der Lektüre wieder etwas anfangen. (ws)

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