Die Philosophie des Nicht-Denkens

Datum: 18.09.2017 (20:00:00–22:30:00)

Ort: Alte Jakobstr. 12 / Ecke Ritterstr. (Tiyatrom Theater), 10969 Berlin

Die seltene Praxis des Nicht-Denkens
Die seltene Praxis des Nicht-Denkens

Die »Philosophie des Nicht-Denkens« (Elektra Wagenrad) ist eine kurze essayistische Streitschrift, die aus philosophischer, psychologischer, entwicklungsgeschichtlicher, neuronaler und IT-Perspektive radikal in Frage stellt, was gemeinhin als erhabenes menschliches »Denken«, »Bewusstsein« oder »freien Willen« aufgefasst wird und das Handeln bestimmt. Es geht um die Vollendung der dritten großen Kränkung eines narzisstischen menschlichen Selbstbildes nach der kopernikanischen und der darwinschen Wende. Die Folgen der dritten, der »psychologischen« Wende sind sehr weitreichend und die Perspektive wirkt daher mehrheitlich verstörend, so dass es naheliegend ist, sie zu verdrängen und zu verleugnen.

Was gemeinhin als »Denken« bezeichet wird, sind zum großen Teil willkürliche sprachliche Prozesse im »inneren Bewusstseinsraum« (Julian Jaynes), durch die Menschen versuchen, die unbewusste und unkontrollierte Tätigkeit der Körperfunktion des Nervensystems im Sinne verinnerlichter gesellschaftlicher Normen und Ordnungsvorstellungen zu beeinflussen. Darüber hinaus belästigen wir uns selbst mit Fragen, die wir an unsere Sprache richten.

Doch es ist ein epistemologischer Alptraum, sich selbst zu fragen. Eine ernst gemeinte Frage ist eine Äußerung, mit der eine Person eine Antwort zur Beseitigung einer Wissens- oder Verständnislücke von einem Gegenüber anfordert. Fragen zu stellen ist eine der grundsätzlichen sprachlichen Techniken, die man schon in früher Kindheit erlernt.

Doch welchen Sinn hat es, wenn A A dazu auffordert, durch sprachliche Antworten die Wissens- und Verständnislücken von A zu schließen, die in A bestehen, denn sonst hätte A ja A nicht im Ernst danach gefragt? Wie soll A auf die Fragen von A – beispielsweise: »Ist die Erde hohl oder ist sie eine Scheibe?« – eine sinnvolle Antwort bilden, nachdem die Frage – wie wir es als wissende Außenstehende erkennen – falsch gestellt und darüber hinaus auch noch an die falsche Adresse gerichtet wurde?

»Wer macht den Wind in der Steppe?«

Ganz von alleine kommt jedes sprachbegabte Kind schon in einer frühen Phase des Spracherwerbs auf die Idee, nicht nur das jeweilige Gegenüber zu fragen, sondern Fragen auch an die eigene Sprache zu richten. Damit taucht es ein in eine innere – zerebrale – Unterhaltung mit dem Logos, oder wie man bis heute sagt: Dem menschlichen Geist. Dieser innere Monolog/Dialog sollte dialektisch geführt werden, so wollte es u.a. die klassische deutsche Philosophie.

Paradox ist, dass die Gespräche mit der inneren Sprache nicht nur für das jeweilige Kind, sondern auch für die Erwachsenwelt selbstverständlich sind, von der das Kind umgeben ist. Der Grund: In der gleichen Weise wie das Kind ist auch die Menschheit historisch als solche dieser Idee verfallen.

In vielen Menschen wird dieser immerwährende zerebrale Monolog oder Dialog nur unterbrochen durch Schlaf, Drogenexzesse, Rasen auf der Autobahn, Sex oder eine vorübergehende Ohnmacht.

Die »Philosophie des Nicht-Denkens« betrachtet das Gespräch mit dem Logos als einen Betriebsunfall der Evolution, der sich bis heute kontinuierlich ereignet.

»Wenn man mit sich selbst völlig eins ist, hat man vorher aufgehört sich selbst zu fragen.«

Ein Hinweis vorab: Wer sich selbst im Logos Fragen über die Philosophie des Nicht-Denkens stellt, wird sich schwer tun. Die Philosophie des Nicht-Denkens läßt sich im Grunde nur durch die Praxis des Nicht-Denkens zu verstehen. Allzu leicht läßt sich das individuelle Bedürfniss nach Selbstverständigung mit dem eigenen Logos also nicht vom Tisch der Philosophie und der Gesellschaft wischen.

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Corinna Aichele (Elektra Wagenrad)

Über die Vortragende: Elektra Wagenrad schreibt technische Bücher über freie Funknetze und philosophische Bücher, in denen Sie die Tatsache kritisiert, dass viele Menschen ein bikamerales Bewusstsein haben und durch die Vorstellung eines imaginären Alter-Egos von sich selbst entfremdet sind, mit dem sie im Vorderlappen des Großhirns Autokommunikation betreiben. Sie hat die Entwicklung der Meshtechnologie für Communitynetzwerke bei Freifunk aktiv mitgestaltet und hat den Einsatz der WiFi-Technologie in Bangladesh, Indien, Chile, Tanzania, Südafrika unterrichtet. Sie ist Autorin des Buches 'Mesh' und Coautorin des Buches "Wireless Networking in the Developing World", das unter der Creative-Commons Lizenz steht.

Sie arbeitet als Software- und Hardwareentwicklerin und hat u.a. den B.A.T.M.A.N. Routingalgorithmus für drahtlose Ad-hoc-Netze entwickelt. Ausserdem die Mesh-Potato, einen WiFi-Router für drahtlose Mesh-Netze in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Veröffentlichungen:

Die Philosophie der Ekstase (1990); Wireless Networking in the Developing World (Core Contributor im Autorenteam, 2005); Mesh. Drahtlose Ad-hoc-Netze (2006); Ich habe mir noch nicht alles gesagt. Gesammelte Fnords (2012); Serenität – Anleitung zum Glücklichsein (2014); Die Philosophie des Nicht-Denkens (2016)

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