Gullivers Trauma

Was sich nicht bändigen lässt...

Vom Sinn und Wert des Versuchs, die Welt festzuhalten
Vom Sinn und Wert des Versuchs, die Welt festzuhalten

In seiner Metaphysik, die er vor mehr als 2.300 Jahren schrieb, verurteilt Aristoteles den "Extremisten" und berühmten philosophischen Vorgänger Heraklit (4. Buch, 1010a5), indem er dessen Nachfolgern unterstellt, sie würden der fließenden, sich ständig verändernden Welt jegliche Erkennbarkeit absprechen. So ganz mag Aristoteles dem nicht zustimmen, konzediert aber immerhin, dass "es einen gewissen Grund zu der Meinung gibt, dass es [d.h. das Fließende, sich Verändernde] nicht existiert." Nicht gibt? Welch sonderbares Statement. Befinden wir uns nicht ständig in einer solchen sich ständig verändernden Welt? Was in ihr steht eigentlich so still, dass wir es wie den armen Gulliver am Boden unserer Erkenntnis mit absoluter Gewissheit festnageln können?

Die griechische Antike setzte mit ihrer kulturellen Blüte zu Platons und Aristoteles' Zeiten eine Maxime in die Welt, die es in sich hatte. Sie ist bis heute der Leitstern allen westlichen Erkenntnisstrebens: Nagele die Wirklichkeit auf einen ganz bestimmten Zustand fest und bringe diesen Zustand auf seinen Begriff. Dann gehört dir die Welt, dann kannst Du sie beherrschen. Das ist nicht nur einseitig, insofern der Fluss des Lebens damit bestenfalls der privaten Plaisir oder gar der achselzuckenden Irrelevanz preisgegeben wird. Dem Paradigma einer Erkenntnis, die ausschließlich fixierte Zustände als ihre Gegenstände anerkennen will, wohnt durchaus auch etwas Aggressives inne. Es steigt aus derlei Weltbehandlung nämlich ein Geist empor, der mächtig flüstert: "Nur Du, dich so verhaltender Mensch, hast das Recht zur Veränderung der Welt. Sie hat sich allein deinem Willen zu unterwerfen und sich nicht selbständig zu verändern!" Schön und gut; sie tut's aber trotzdem. Und wie!

Was zunächst wie eine lächerliche Anmaßung klingt, nämlich die Wirklichkeit auf eine diskontinuierliche Abfolge fixierter Zustände reduzieren zu wollen, ist so harmlos nicht. Denn tatsächlich hat der abendländische Mensch es mit dieser Herangehensweise zunächst ziemlich weit gebracht, zumindest was die Naturbeherrschung betrifft; übrigens vor allem in der Kriegstechnik. Aber mancher Nutzen fiel auch für die zivile Bevölkerung ab; unbestritten. Dennoch: Auch unsere moderne Naturwissenschaft, der wir einerseits sehr wertvolle Fortschritte in den friedlichen Bereichen ihrer Forschung verdanken, ist durchdrungen vom Imperativ der Feststellung dessen, was ist, und sagt nur am Rande und höchst ungern etwas darüber, was gerade oder später wird.

Auf besonders deutliche Weise schlägt sich dieses Denken in einem Bereich nieder, auf den wir Abendländer  besonders stolz sind: die Logik. Sagen Ihnen solche Disziplinen wie Aussagenlogik, Prädikatenlogik, Quantorenlogik oder Modale Logik etwas? Wenn nicht, lassen sie sich eines versichert sein: Sie alle handeln ausschließlich von Zuständen und ihren Kombinationen, Umformungen und weiteren zuständlichen Schlussfolgerungen daraus. Nun gut, mögen Sie einwenden, ist das nicht genug? Und wie sollte es anders überhaupt gehen?

Zunächst zu der Frage, ob die logische Erfassung ausschließlich von Zuständen nicht genug sei. Dagegen spricht, dass fast alle anderen Kulturen auch die dynamischen Aspekte der Welt und des Lebendigen mehr zur Geltung kommen lassen, wenn auch zunächst in Formen von Geistern und naturreligiösen Vorstellungen, die uns nicht mehr akzeptabel erscheinen. Am auffälligsten aber ist, dass wir selbst, also Fahnenträger der besagten Maxime, im Alltag meist nicht in Zuständen denken, sondern in den fließenden Kategorien einer alles durchdringenden Dynamik der Welt: Wenn sich vor mir der Bus der Haltestelle nähert, ich aber noch einges von ihr entfernt bin, so fange ich an zu rennen und laufe so schnell es geht, um den Bus noch zu erreichen. Oder wenn ich mich in Gegenwart wichtiger Personen befinde, vor denen ich mich mit meinem Verhalten in Acht nehmen muss, so versucht mein ganzer Körper und kognitiver Apparat, sich den Erfordernissen dieser Situation in feiner Bewegungs- und Sprachsteuerung anzupassen. Oder wenn ich in der Brandung des Meeres schwimmend versuche, wieder den Strand zu erreichen. Von welchen Zuständen, von welchen fixierten Tatsachen könnte hier auch nur die Rede sein? Es gibt sie nicht; gar nichts lässt sich in solchen und tausend  ähnlichen Situationen wirklich feststellen. Wir sind mitten drin in der Weltendynamik, und nur unser geschicktes Einlassen darauf kann uns helfen, sonst nichts.

Nun zur zweiten Frage, ob es denn, was die Logik betrifft, anders geht als in den besagten und klassischen logischen Disziplinen. Die Antwort lautet: Ja, vielleicht. Zumindest ist der Autor dieser Zeilen gerade dabei, eine Logik zu entwickeln, die im Kern die Prozesshaftigkeit ihrer Aussagen formalisiert und (fixe) Gegenstände und deren (ebenfalls fixe) Attribute auf das zurückschneidet, was sie tatsächlich sind: Bezugspunkte des Dynamischen. Eine solche Logik bedarf zunächst nur eines einziges neuen Operators, der explizit anders macht, was in der klassischen Logik meist implizit vorausgesetzt wird: Dies ist der <WIRD>-Operator, der überall dort zum Einsatz kommt, wo in der klassischen Logik ausdrücklich oder indirekt ein <IST> gedacht oder gesetzt wird.

Hier ist nicht der Ort, um ausführlicher auf die Details der sich dabei auftuenden neuen Denkfronten einzugehen. Es ist auf jeden Fall ein spannendes, ja aufregendes Unternehmen. Denn alles, was es hier zu entdecken gibt, ist merkwürdigerweise eine sich uns im Alltag so unmittelbar aufdrängende Welt und gleichzeitig in den logischen Kategorien unseres Bewusstseins weitgehende terra incognita.

Ein ganzes Stück Vorarbeit ist bereits geleistet. Frage an Sie: Welche logisch oder mathematisch vorgebildete Frau bzw. Mann hat Interesse, an diesem Projekt teilzunehmen? Es winkt reicher, wenn auch nicht unmittelbar monetärer Lohn ;-). Immerhin würde aber, wenn das Ergebnis erst einmal präsentabel ist, eine Veröffentlichung in der MoMo Schriftenreihe winken. Und natürlich jede Menge Spaß am neuen, aufregenden intellektuellen Bemühungen auf bislang unerforschten Pfaden. Interessenten melden sich bitte beim Verfasser dieses Artikels, Wolfgang Sohst, hier.

Nur zum Abschluss: Wenn jemand infolge der Jahrtausende trainierten Fixierung der Welt auf ganz bestimmte Zustände traumatisiert wurde, dann ist es nicht nur eine auf diese Weise traktierte Natur und Welt. Wir selbst sind die ersten Opfer unserer eigenen Denkimperative und -filter. Und auch alle diejenigen Menschen unserer eigenen und anderer Kulturen (insbesondere der Kinder), die sich diesen Zwängen unterwerfen sollen, obwohl sie spüren, was sie dadurch verlieren und nur mageren Ersatz dafür bekommen. Eine Korrektur auf dieser sehr tiefen Ebene unserer sozialen Existenz ist also keineswegs nur eine Frage der Logik. Sie ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und der Legitimität kulturell begründeter Autorität. (ws)

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