Gut und Böse sind Geschwister

Das Gemeinwohl klebt an der Gemeinschädlichkeit - unvermeidlich

Das Gespenst vom gesellschaftlichen Ziel der Ausrottung des Bösen durch das Gute ist nicht so leicht zu besiegen. Dieser Wahn ist keineswegs nur in extremistisch-islamischen Regionen dieser Welt heimisch, sondern auch in den christlich starkreligiösen USA. Neuerdings taucht er auch immer öfter in Europa auf. Dahinter steht eine Obsession, die man als Nichtbesessener kaum versteht. Dabei bedarf es nur eines kurzen Blicks in die jüngere Geistesgeschichte, um zu sehen, dass die Rede vom Kampf des Guten gegen das Böse - jenseits religiösen Wahns - nur leerer Schall und Rauch ist: Die Welt funktioniert einfach anders, und wir wissen es schon lange.

Schon Adam Smith wusste es

Bereits vor ca. 250 Jahren, nämlich im Jahr 1776, erschien von Adam Smith das epochale Werk mit dem Kurztitel "Der Wohlstand der Nationen". In diesem Buch erklärt Adam Smith seiner und allen nachfolgenden Generationen, dass das kumulierte Privatinteresse zum Gemeinwohl führt. Natürlich nicht immer, beeilte er sich ebenfalls zu sagen; vielmehr sei es Aufgabe einer klugen Regierung, die gesellschaftlichen Kräfte eben so einzurichten, dass ein möglichst großer Teil privaten, d.h. eigennützigen Handelns gleichzeitig das Gemeinwohl steigert. Das wird nie vollständig gelingen, aber die Aufgabe guter Regierung ist damit zumindest klar benannt. Dem schloss sich in einem weiteren, ebenfalls epochalen, wenn auch heute leider in Vergessenheit geratenen Werk Lorenz von Stein mit seiner Analyse der sozialen Vorgänge während und nach der Französischen Revolution an ("Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich", 1850). Mit seinem auf der Hegelschen Staatsidee basierenden Vorschlag einer dialektischen Vermittlung zwischen Reich und Arm, zwischen den Mächtigen und den Machtlosen, begründete er die deutsche Sozialdemokratie und war eine der Gründerfiguren der gerade erst im Entstehen begriffenen Soziologie als Wissenschaft.

Dieser Vorstellung eines Ausgleichs zwischen notwendigem Privateinteresse und ebenso notwendigem Gemeinwohl, damit auch der Optimierung des privaten Eigennutzes zugunsten des Gemeinwohls, schlossen sich später und bis heute praktisch unangefochten die Wirtschaftswissenschaften an. Im Kern ist dies die Idee des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gleichgewichts. Sie steht heute nicht nur im Zentrum der gesamten Wirtschaftswissenschaften, sondern ist auch das Fundament der theoretischen Soziologie. Sie ist, juristisch gesprochen, inzwischen weltweit herrschende Meinung, selbst in der marxistischen Gesellschaftstheorie. Funktional ist diese Idee im Begriff des sog. Pareto-Optimums ausgedrückt. Der Begriff des Pareto-Optimums besagt, dass man in jedem System einen Zustand ermitteln kann, in dem es nicht möglich ist, eine wichtige Eigenschaft zu verbessern, ohne zugleich eine andere wichtige Eigenschaft zu verschlechtern. Heißt hier: Das Pareto-Optimum im Verhältnis von gemeinwohlnützlichem zu gemeinwohlschädlichem liegt nicht etwa am einen Ende der Skala, wo es nur noch "gutes" und gar kein "schlechtes" Verhalten mehr gibt (wie man es konkretisiert ist, eine weitere, hier aber nicht besprochene Frage), sondern irgendwo in der Mitte. Warum ist das so?

Ein kurzer theoretischer Ausflug

Wir stellen uns zur Erklärung ein Mini-Gesellschaftsmodell vor, das nur sehr wenige unbegründete Voraussetzungen (Axiome) enthält, und zwar jene, die praktisch nirgendwo ernsthaft bestritten werden. Diese Axiome lauten:

a) Privatinitiative ist unverzichtbar für das Fortbestehen von Gesellschaft
b) Privatinitiative kann gemeinwohlschädlich oder -nützlich sein.

Die Frage ist folglich: Wie kann ich die Gemeinwohlnützlichkeit des privaten Interesses optimieren?

Antwort: Durch das heuristische Suchen und ständige Nachbessern jeweils des Punktes der gesellschaftlichen Steuerung des privaten Interesses, an dem das Verhältnis der gesamten privat-gemeinwohlnützlichen gesellschaftlichen Beiträge zu den gesamten privat-gemeinwohlschädlichen gesellschaftlichen Beiträgen am größten ist. Wie der besagte Quotient bereits zeigt, ist der Punkt "Null Gemeinwohlschädlichkeit" nicht zu erreichen, weil er - mathematisch - eine Division durch null produziert, die gesellschaftlich den Zusammenbruch bedeutet, weil alle Menschen so von Regeln tyrannisiert werden, dass die Gesellschaft erstarrt. Das wäre ihr sozialer Tod, den niemand herbeiführen will. Praktisch liegt das Optimum aber ohnehin weit vor diesem Punkt, weil das private Handlungsinteresse ebenfalls mit steigendem Druck zum Gemeinwohl stetig abnimmt (Beispiel: Unternehmerflucht bei steigenden Steuern).

Gegen die Obsession der Enttäuschten

Ergebnis: Gemeinwohlschädliches Verhalten ist unvermeidlicher Teil selbst einer optimal organisierten Gesellschaft. Das klingt zwar nicht übermäßig toll und bedarf auch tatsächlich ständiger Nachbesserung, es nimmt aber jeglicher politischer und sonstiger öffentlicher Empörung sozusagen die Spitze: Sozialität ist essentiell antagonistisch strukturiert. Das Gute entfaltet seine maximalen Kräfte nur gegenüber ihrem Gegner, dem Bösen. Wer's nicht glaubt, lese noch einmal bei Adam Smith, Hegel und Lorenz von Stein nach, übrigens sogar bei Karl Marx. Ihre Standpunkte in dieser grundlegenden Frage sind bis heute und wohl auch bis auf Weiteres unwidersprochen. (ws)

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