In höchster moralischer Not

Rettung für die politischen Nicht-Interventionisten

Afrikanischer Kolonialismus
Wir sehen hier ein Problem

Es gibt Arten des schlechten Benehmens, die besonders störend sind. Dazu gehört beispielsweise, sich bei einer Einladung hochnäsig über den mangelhaften Einrichtungsgeschmack der Gastgeber auszulassen oder über deren angeblich bedenkliches Erziehungsideal, wenn ihre kleinen Kinder das gepflegte Gespräch stören.

Die Steigerungsform dieser Art sozialen Scheiterns erleben wir, wenn Vertreter unterschiedlicher Kulturen aufeinander treffen und jeweils über die andere Kultur kritisch reden. Das kommt selten gut an. Die sich postwendend einstellende Beleidigtheit auf der jeweiligen Gegenseite dürfte ziemlich gut die Situation beschreiben, die aktuell zwischen den großen Kulturkreisen unserer kleinen, runden Welt herrscht. Alle konkurrieren heftig mit allen anderen:

  • Die arabische, vielleicht auch die ganze muslimische Welt hat schwere Vorwürfe gegenüber dem gottlosen ‚Westen‘ und seinen verwahrlosten Sitten, obwohl ein guter Teil dieses sog. Westens, nämlich die USA, gar nicht gottlos ist, sondern für den europäischen Geschmack sogar etwas zu gottverliebt.
  • Der solcherart kritisierte ‚Westen‘ – auch nicht faul – schlägt als Retourkutsche seinen arabisch / muslimischen Kritikern dafür historisch-kollektive Entwicklungsdefizite um die Ohren (‚im Mittelalter stecken geblieben‘ etc).
  • Die Chinesen wiederum stellen ebenfalls beim ‚Westen‘ (in diesem Falle besonders bei den USA) irreale Vorstellungen davon fest, wie man große Menschenmassen zu führen habe (nämlich autoritär, nicht liberal), weil sonst alles drunter und drüber und nichts mehr vorwärts gehe wie angeblich in den USA und Europa. Dies sagen sie ganz non-chalant, obwohl es für gut verdienende KP-Funktionäre nichts Höheres gibt als ihre Kinder nach Eaton und später Princeton zu schicken und nebenbei das irgendwie angesammelte Privatvermögen in der Schweiz oder London unterzubringen.
  • Umgekehrt werfen die Westler den chinesischen Östlern, blind gegenüber ihrem eigenen historischen Gewalttaten gerade in Asien, ebenfalls schwere Fehlentwicklungen vor, z.B. das Fehlen einer moralischen Instanz oberhalb der schieren Selbstermächtigungsideologie der chinesischen KP, so dass Korruption und Rechtlosigkeit wild wuchern (siehe Francis Fukuyama in The Origin of Political Order, Farrar, Straus and Giroux, NY 2011).

Und so unendlich weiter. Die gegenseitigen Vorwürfe und Disqualifikationen riechen in ihrer Machart untilgbar nach jener nationalistischen Arroganz, die in Europa mindestens bis zum Ende des 1. Weltkrieges herrschte, in Deutschland bekanntlich noch ein schreckliches Ende länger. Aber auch der Rest der Welt ist da an vielen Orten nicht besser.

Das Dilemma aller moralischen Interventionen

Abgesehen von der gehörigen Portion Hochnäsigkeit, die sich in solchen Kollisionen immer und auf allen Seiten feststellen lässt, bleibt eine nagende und keineswegs unwichtige Kernfrage: Gibt es absolute Bewertungskriterien, an denen sich die historische Entwicklung einer Gesellschaft oder eines Kulturraums messen lassen muss?

Bereits die Frage ist prekär. Sie erinnert an die unendlichen Gewalttaten, mit der europäische Kolonialisten über die letzten vier Jahrhunderte hinweg praktisch alle anderen Weltteile mit ihrer Vorstellung von sozialer Entwicklung überzogen. Die letzten Beispiele solcher Überhebung liefert ganz aktuell die amerikanische Kriegspolitik seit dem 11. September im Irak, in Afghanistan, in Libyen (zusammen mit den in dieser Hinsicht ebenfalls sehr eifrigen Engländern und Franzosen, nur dass diesen das Geld fehlt, um noch mehr Krieg machen zu können) und anderswo, insbesondere in zahlreichen Kleinkriegen in Afrika. Die Deutschen beteiligen sich aus andauernder (und sehr berechtigter) Nazi-Scham nur noch aus dem Hintergrund an solchen Unternehmungen, wirtschaftlich dafür umso effizienter, mit Waffenlieferungen. Letztlich gilt aber auch hierzulande dieselbe ideologische Rechtfertigung (von der verhohlenen wirtschaftlichen Habgier ganz abgesehen): Wir sind die Guten, weil wir euch das Gute bringen. Das Ergebnis dieser Einstellung ist überall dasselbe: unendliche Verwüstung, und zwar nicht nur materieller Art, sondern auch auf der Ebene der gewachsenen sozialen Strukturen in den Kriegsgebieten.

Die vorstehend gestellte Frage mündet also umgehend in ein fürchterliches Durcheinander aus angeblicher oder wirklicher Besserwisserei, Habgier, ideologischer Verblendung und schierer Dummheit, und am Ende ist alles kaputt. Und doch ist die vorstehend gestellte Frage damit keineswegs hinfällig: Kann man Kulturen auf einer einheitlichen Entwicklungsskala miteinander vergleichen und – nun ja, das ist des Pudels Kern: sogar bewerten?

Der flaue Beigeschmack des Nicht-Interventionismus

Wer diese Frage verneint, müsste konsequenterweise zum Lager der strikten Nicht-Interventionisten gehören, jedenfalls solange sich noch etwas Empathie in ihrer/seiner Brust regt. Man kann natürlich auch ein überzeugter Nicht-Interventionist sein, obwohl man einen wertenden Kulturvergleich für angebracht hält, nämlich dann, wenn man schlicht zu faul ist, zu intervenieren, weil’s einem ohnehin schon gut genug geht, oder wenn man einfach Angst hat, sich bei seinen Beglückungsversuchen eine blutige Nase zu holen. Das muss nicht nur Feigheit sein.

Diese Haltung, also der Nicht-Interventionismus, hat allerdings den Ruch unheilbarer Realitätsferne. Auch wenn man alle Fälle offensichtlich überwiegend wirtschaftlich motivierter Kriegslust abzieht, bleibt eine erkleckliche Anzahl von Spannungsherden auf der Welt übrig, wo man in Anbetracht der schier unbegreiflichen Grausamkeiten, die sich Menschen dort antun, kaum mit den Worten „das ist eure Sache!“ einfach mit den Achseln zucken und sich wieder dem eigenen Alltag zuwenden kann. Das grenzt an Zynismus, insbesondere, wenn sich die Konfliktparteien selber um Hilfe suchend an eine außenstehende Macht wenden. Dies gilt schon vor aller Kriegstreiberei: Sind die reichen Ländern zur Eindämmung von Aids und Ebola in Afrika auch dann verpflichtet, wenn keine Ausbreitung der Epidemien auf ihre eigenen Bevölkerungen drohen? Sollen wir in Afghanistan dabei helfen, eine demokratische Gesellschaft nach westlichem Vorbild aufzubauen, selbst wenn von diesem Land keine terroristischen Gefahren mehr ausgehen, weil ansonsten dort Mädchen in ländlichen Gebieten nicht zur Schule gehen können, ohne zu riskieren, mit Säure überschüttet oder gleich erschossen zu werden? An weiteren Beispielen fehlt es nicht.

Das Problem ist hier nicht allein das drängende Mitgefühl. Das Problem ist die unvermeidlich ideologische Beimischung, die jedes auch noch so stark von Mitgefühl getragene Urteil über die jeweilige Zielkultur solcher Interventionen hat. Gutmenschentum gibt es nicht umsonst; es verlangt immer nach einer bestimmten moralischen Wertung der Verhältnisse, und die kann am Ende einfach ziemlich ungerechtfertigt sein, d.h. letztlich nur vom eigenen Standpunkt aus ‚richtig‘. Aber können wir uns vor solchen nicht-neutralen Interventionen schon allein deshalb drücken, weil sie nicht neutral seien und damit nicht ‚wirklich‘, d.h. absolut moralisch zu rechtfertigen? Wohl kaum. Eine solche Nicht-Aktivität überlässt das Handlungsfeld am Ende nur all den anderen Akteuren, die moralisch noch viel weniger empfindlich sind und ihrem Vorteil womöglich noch viel rücksichtsloser nachgehen.

Damit wird der Nicht-Interventionist nun zum sehr unfreiwilligen Interventionisten. Dies vor allem deshalb, weil er sich nie sicher sein kann, aus welchen Motiven er wirklich handelt, oder realistischer gesagt, welcher Anteil seiner Motive überhaupt selbstlos-mitfühlender Natur ist. Wir sind eben keine außenstehenden Beobachter eines global zusammenwachsenden sozialen Großsystems, sondern Teil dieses Systems, d.h. notwendig verstrickt und mit unvermeidlichen Reflexionsdefiziten behaftet, den sog. ‚blinden Flecken‘ in der Betrachtung der jeweils anderen Kultur.

Ein Silberstreif...

Wie könnte ein Ausweg aus dieser Situation aussehen? Nun, ich meine, es gibt noch einen Trumpf, eine hidden variable, in diesem häufig schrecklichen Spiel. Die könnte uns zumindest helfen, eine nachhaltiger vertretbare und damit bessere Handlungsentscheidung zu treffen. Diese Variable ist der Vorbildcharakter unseres Handelns. Die philosophisch gelehrte Formel für ein solches Kriterium lieferte bekanntlich Kant mit seiner Rede vom ‚kategorischen Imperativ‘ aus seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Nun geht es dabei nicht um den Weltfrieden, über den sich Kant in Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1. Auflage 1795) ebenfalls Gedanken machte, der aber eher zum modernen Begriff des Völkerrechts führt. Kant sei Dank! Doch ist unser Problem der Rechtfertigung von Interventionen moralisch ganz ursprünglich. Gibt es eine absolute Wertungsskala, nach der man in die Entwicklung anderer Kulturen, Völker oder Gesellschaften eingreifen darf, weil man sich auf einer höheren Stufe wähnt? Schwierige Frage. Denn wenn auch eine solche Überzeugung auf noch so tönernen Füßen stehen mag, folgt aus ihr doch genauso wenig eine Rechtfertigung der Intervention wie die Enthaltung von derselben.

Der kategorische Imperativ ist zu alledem auch noch insofern hoffnungslos veraltet, als er auf die Vernunft als absolute Entscheidungsgrundlage abstellt. Lachhaft! Wo ist sie, diese absolute Vernunft? Hat sie irgendjemand schon gefunden? Bitte melden; ich zahle hohen Finderlohn. Und dennoch: Es ist nicht alles verloren, behaupte ich. Immerhin leben wir in einem Zeitalter allumfassender Kommunikation. Wir können uns also erkundigen, was andere Menschen über unsere Handlungsabsichten denken, und zwar nicht nur bei unseren engsten Freunden, sondern auch bei unseren Gegnern. Gut, bei deren Meinung müssen wir natürlich immer ihre eigenen Interessen herausrechnen, um unser Urteil zu schärfen. Und siehe da, selbst der verachtetste Feind hat häufig noch Argumente zu bieten, die für das eigene Urteil wertvoll sind – sofern wir bereit sind hinzuhören.

Wir stellen den kategorischen Imperativ damit vom absolut-vernünftigen Kopf auf die empirisch-vernünftigen Füße. Wir versuchen, alle Argumente zu ermitteln, die unsere Handlungsentscheidung rational begründen helfen, und das heißt eben auch, sie nachhaltig moralisch rechtfertigen zu können. Denn nach wie vor mit höchster Geltung ausgestattet bleibt ein Grundsatz, den Kant nicht einmal meinte besonders betonen zu müssen, der aber doch so zentral ist: Moralisch gerechtfertigt kann nur ein solches Verhalten sein, das im relativ geringsten Widerspruch zu dem zugrunde liegenden Werteschema des Handelnden steht; eine vollkommene Widerspruchsfreiheit dürfte genauso unrealistisch sein wie die reine, selbstlose Mitmenschlichkeit. Christine Korsgaard hat hierzu in ihrem Buch Self-Contitution: Agency, Identity and Integrity (Oxford University Press, 2009) wichtige Gedanken geäußert. Demzufolge wäre also aus einem global-politischen Diskurs unter der Maxime der Aufrichtigkeit die jeweils beste Interventionsalternative nach Maßgabe der selbstlos vorgetragenen und innerhalb des jeweils eigenen Wertesystems relativ widerspruchsfreiesten Argumente zu ermitteln.

Aus einem Nicht-Interventionisten wird damit sicherlich kein begeisterter Interventionist. Aber vielleicht ein Vorbild für die anderen. Und das ist an sich bereits viel wert.

(Autor: Wolfgang Sohst)

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