Das Zeitalter der Bilder

Wir leben im Zeitalter der Bilder

Filmtitel:

(Den vorstehenden Clip 8:03 habe ich anlässlich der Entstehung des folgenden Textes produziert. Der Titel erinnert an John Cages' 4'33". Cage entdeckte das Schweigen in der Musik in erster Linie als Protest gegen das, was ich im Folgenden als die Macht der Bilder gegenüber der Ohnmacht der Zeichen beschreibe.)

Schöne, gefährliche Unmittelbarkeit

von Wolfgang Sohst

Seltsam, so viel wurde über die Macht der Bilder und die Ordnung der Zeichen geschrieben. Doch ihre innere Verwandtschaft und gleichzeitige Feindschaft wurde kaum besprochen. Nun leben wir inzwischen im Zeitalter der Bilder. Jenes der Zeichen haben wir hinter uns; ob das als Fortschritt zu bezeichnen ist, bleibt abzuwarten.

Im Kampf um die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten haben die Zeichen grundsätzlich das Nachsehen: Sie müssen interpretiert werden. Bilder, besonders die bewegten, sind da klar im Vorteil. Ihre suggestive Unmittelbarkeit schlägt alle anderen visuellen Konkurrenten mühelos aus dem Feld. Wie glücklich konnten sich noch die totemistischen Kulturen früherer Zeiten schätzen, als sie mittels weniger gemalter Striche ihre Gruppenidentität bestimmten. Durkheim sah darin eine der Grundformen des Religiösen. Ach was! Zunächst einmal musste der Mensch wissen, wer er ist. Diese Frage beantwortete ihm seine Clan-, Stammes- oder Familienzugehörigkeit per Strichcode. Das schafft Eindeutigkeit.

So etwas haben wir Heutigen schon lange nicht mehr nötig. Unsere soziale Identität wird uns meist schon kurz nach unserer Geburt behördlich zugewiesen. Die entsprechenden Dokumente zeigen wir bei Gelegenheit vor, und voilà, gleich öffnet sich der Gateway zum Flugsteig oder das Firmentor. Was braucht es mehr? Da und dort finden sich zwar noch Reste urzeitlich-identitätsschwangerer Zeichensucht, wie z.B. in zur Schau getragenen Markenzeichen teurer Konsumgüterhersteller, vor allem bei Smartphones, Autos oder Kleidung. Auch die übermäßige Tätowierung vieler Zeitgenossen ist mir verdächtig. Im Grunde genommen hat sich die Sache aber überlebt. Selbst das allgemeinste aller Zeichen, der gedruckte Buchstabe, wird im Alltag eher aus Pflicht konsumiert, sofern er keine unmittelbare Unterhaltung verspricht.

Das Bild dagegen! Die wunderbar bewegten Bilder! Herrlich, wie sie uns entführen, gar mit Ton unterlegt in uns das wirkliche Leben aufsteigen lassen. Nie brauchten wir die Bilder so dringend wie heute. Schwere Arbeit wird durch Berieselung mit musikalischen Bildern leichter. Bedrückende Fremdbestimmung wird gelindert, wenn wir sehen, dass alle anderen sich ebenfalls fügen. Sogar die Rechthaberei kommt auf ihre Kosten: Tatsachen werden im Alltag durch Bilder bewiesen, selbst wenn sie dann und wann gefälscht sind. Instantane Freude bereiten wir unseren Nächsten durch ein nettes Selfie. Ein wirklich unterhaltsamer Abend mit Freunden spielt sich häufig vor bildgebenden Apparaten ab, zur Not auch im Kino, auch wenn das etwas umständlich ist.

Bilder können natürlich zum Nachdenken anregen. Das tun sie aber selten. Im Normalfall erregen sie ausschließlich Gefühle, z.B. solche der Empathie, der Empörung, des wohligen Gruselns, des sachlichen Überzeugt-Fühlens. Vor Gericht und ganz allgemein bei den staatlichen Behörden geht es natürlich anstrengender zu. Dort werden ungeduldig, weil fristbewehrt, schwierige Zeichenfolgen erwartet, z.B. Schriftsätze, Steuererklärungen. Da müssen dann teure Spezialisten ran, die können das noch. Auch beim Online-Banking müssen wir immer noch Bildschirmformulare ausgefüllen, das ist nicht unterhaltsam. Es wird der Tag kommen, wo wir mit all diesen anstrengenden Zeichen einfach Schluss machen dürfen und nur noch in der Unmittelbarkeit der tonalen und visuellen Bilderwelten planschen dürfen. Den Rest erledigen die Google-Programmierer oder wer auch immer, von mir aus auch die NSA, wenn die glauben, bei mir sei was zu holen. Nicht wahr?

Zeichen sind ja eigentlich auch Bilder, allerdings andere. Es fehlt ihnen die immanente Behauptung des Abbildens von Wirklichkeit. Sie generieren selbst Bedeutung, deshalb bedienen sie sich keiner fremden. Die paradiesisch direkten, weil zeichenlosen Bilder gaukeln uns dagegen vor, die Wirklichkeit "ganz einfach" zu zeigen, angeblich wie sie "eben ist". Der zugrunde liegende Distanzverlust ist das Programm der Bilderproduzenten. Das wusste keiner besser als die Katholische Kirche, als sie entdeckte, dass die Ausschmückung der Innenwände ihrer Gottenhäuser mit Heiligenbildern noch tiefer wirkt als die frappante Höhe ihrer Bauten. Natürlich haben auch die Christen ihr Totem, nämlich das Kreuz. Aber wie wenig es taugt, die Menschen wirkllich zu binden, zeigt die Tatsache, dass erst das Bild des leidenden Jesus auf dem Zeichen des Kreuzes wirklich die Gemüter bewegt. Da spielt die Musik!

Übrigens konnte selbst der PC seinen Siegeszug rund um den Globus erst antreten, als dank Windows aus dem zeichenbasierten Bildschirm eine grafische Benutzeroberfläche wurde. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal einen Windows-Desktop mit seinen bunten Icons im Schaufenster eines Computer-Ladens sah. Ich war sprachlos vor Faszination.

Ja, ich bin ein Freund der Zeichen geblieben. Ich weiß, dass ich mit dieser Leidenschaft ernsthaft aus der Zeit zu fallen drohe. Ich fühle mich wie ein Ingenieur, der, statt gebannt der Handlung auf dem Bildschirm zu folgen, ständig darüber nachdenkt, mit welche Bildwiederholfrequenz das Display arbeitet. Können Sie sich die Blicke der Sitznachbarn vorstellen, wenn ein solcher Zeitgenosse neben ihnen Platz nimmt? Sie reagieren in der Regel mit Mitleid oder schierem Unglauben. Manche wollen auch ernsthaft helfen, machen sich Sorgen. Sich nicht der Unmittelbarkeit der Bilderwelten hingeben zu können wird sicher bald in den Katalog der kassenärztlich anerkannten psychischen Erkrankungen aufgenommen werden.

An der amerikanischen Westküste, im Silicon Valley, da gibt es angeblich eine Häufung so genannter Geeks. Das sind technikbesessene Programmierer, die sich auf der Seite des Herrgotts der Zeichen fühlen, weil sie wissen, wie man die Geld-, Gefühls-, Wissens- und letztlich Machtstrippen in dieser Welt zieht. Und sie haben Recht! Bloß sind leider nicht sie es, die diese Strippen ziehen, sondern vielmehr die, von denen sie ihren monatlichen Paycheck erhalten. Sie glänzen in geborgter Pracht.

Es waren wohl Gedanken wie diese, die mich motivierten, MoMo als eine Plattform für diejenigen auszubauen, die Spaß am Umgang mit Zeichen und der Gestaltung ihrer Bedeutung haben; Gedanken, die mich eines Morgen auf den dazu passenden Slogan brachten: "Selber denken. MoMo."

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