Beschädigt

Bin nur ich es, oder liegen wir alle auf dem Rücken?
Im Jahr 1912 schrieb Franz Kafka seinen vielleicht berühmtesten Essay Die Verwandlung. Fünfundvierzig Jahre und zwei Weltkriege später sagte Theodor W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia - Reflexionen aus einem beschädigten Leben, dass unter falschen gesellschaftlichen Umständen kein richtiges Leben möglich sei. Individuelle Existenzformen – Liebe, Freundschaft, Arbeit, Wohnen, Erziehung, Denken – werden unvermeidlich strukturell beschädigt, weil sie von gesellschaftlichen Zwängen durchdrungen sind. Man sollte hinzufügen: Unter besonders ungünstigen Umständen kann eine Person psychisch und sozial sogar bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden.
Die heutigen Zeiten geben leider Anlass zu dem Verdacht, dass wir, d.h. größere Teile der gesamten Menschheit, wieder einmal in einer Situation angelangt sind, aus der wir nicht unbeschädigt herauskommen werden. Und waren schon vorher beschädigt.
Der unangenehm ehrliche Blick
Mal ehrlich: Wenn wir uns selbst und unsere Zeitgenoss:innen einigermaßen aufrichtig anschauen, könnte man in Mutlosigkeit verfallen. Wir alle kommen aus einer Kindheit, aus einer Jugend und aus zahlreichen anschließenden Erfahrungen, in denen wir jede Menge kleine und größere Unfälle erlebt haben. Wären wir Autos und könnte man unsere inneren Zustände an unserer Karosserie sichtbar machen, wären wir allesamt ziemlich hässliche, verbeulte, ramponierte Kisten. Aber weil wir dies zumindest unbewusst spüren oder uns einfach nur daran gewöhnt haben, merken wir es gar nicht mehr. Hier ein Nervenzusammenbruch, dort mühsam maskierte Depressionen, da wüste Hassanfälle, viel intellektuelles und emotionales Chaos, blanke Not, Einsamkeit, auch mal richtiger Irrsinn. Habe ich etwas vergessen? Ach ja: Natürlich gibt es auch die ganz normalen Menschen, die gut gelaunten dort, deren psychische Batterien sogar noch soweit aufgeladen sind, dass sie anderen helfen können oder zumindest hinschauen, was um sie herum überhaupt los ist. Ich muss zugeben: Wenn ich mal ganz neutral um mich blicke, scheinen mir diese normalen Menschen nicht gerade die Mehrheit derer zu stellen, die mir auf der Straße und in all den Geschäften begegnen.
Das war vielleicht 'schon immer' so, d.h. zumindest in den letzten zweitausend Jahren, seitdem Menschen in immer größerer Zahl und Dichte zusammen leben und oft nicht recht wissen, ob sie die ganze Zeit nur gelebt werden oder selbst leben. Es gibt aber auch - und das kommt heute erschwerend hinzu - historische Umstände, die uns stärker belasten oder auch entlasten können. Die 1990er-Jahre mit ihrem Optimismus nach dem Fall der Berliner Mauer waren für viele Menschen in den westlichen Industriestaaten eine Zeit des Aufatmens. Im ehemaligen so genannten 'Ostblock' allerdings eher nicht. Dort spürte man, dass vierzig Jahre Sowjetherrschaft jede Menge Beschädigungen hinterlassen hatten, sowohl gesamtgesellschaftlich, industriell, wirtschaftlich, als auch ganz individuell. Tatsächlich war aber auch die westliche Gesellschaft keineswegs ohne Blessuren durch dieselbe Zeit gegangen. Sie hatte bloß das zweifelhafte Glück, ihre Schäden durch Konsum übertünchen zu können - neues Auto, schickere Wohnung und so.
Wider die nackte Gewalt
Nun stehen wir alle, in diesem Falle besonders die Europäer und einige andere Gesellschaften, die von autoritären Gewaltgroßmächten hart bedrängt werden, neuerlich an einem Punkt, wo sich der Gesamtschaden, der sich da gerade anbahnt, nicht mehr kaschieren lässt. Und das hat individualpsychologisch, wie Adorno ganz richtig spürte, leider die unangenehme Folge, dass man dadurch auch den Individualschaden, den man selbst und ganz persönlich in seinem bisherigen Leben erlitten hat, ebenfalls nicht mehr so gut verstecken kann, weder vor sich noch vor der Umwelt.
Nun sind wir keine Autos und können uns nicht gegenseitig einfach auf den Schrott werfen. Wir müssen uns wohl oder übel gegenseitig helfen, und sei es auf psychischen Krücken, im seelischen Rollstuhl, uns selbst kurieren und dabei hier mit dem Blinden reden, der nicht mehr versteht, was gerade mit ihm passiert, dort der Nachbarin zuhören, die zwar immer sehr freundlich lächelt, aber längst nicht mehr sagen kann, warum sie eigentlich lebt. Das ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, die ein bisschen einer Nachkriegssituation ähnelt. Nun könnte man meinen: Immerhin, wenn schon fast alles kaputt ist, kann es doch eigentlich nur noch aufwärts gehen. Das klingt hoffnungsfroh. Leider sieht es derzeit so aus, als seien wir noch nicht auf der Talsohle der gesellschaftlichen Krise angelangt. Der Krieg in der Ukraine wütet immer noch. Die Welt verliert mit der Entwicklung in den USA auch noch den letzten Rest moralischer Orientierung, die wir trotz allen Wahnsinns dort immer noch suchten. Gesellschaften, die sich nicht zur weltweit wuchernden Recht- und Rücksichtslosigkeit bekennen, sehen nicht nur wie Schwächlinge aus, sondern scheinen wirklich den Kürzeren zu ziehen. Wir müssen uns also warm anziehen, und zwar auch ganz persönlich. Die Wärme, um die es hier geht, kommt aber, wenn überhaupt, nicht aus irgendwelchen Kleidungsstücken, sondern aus praktisch gelebter Solidarität.
Ende der Party. Anfang des Wiederaufbaus.
Kafka und Adorno haben ihre Zeilen nicht zu unserer Erbauung geschrieben. Sie meinten das als Weckruf zur Selbstbesinnung. Damit man in solchen Zeiten aber wieder Mut fassen kann, sollte man sich zu allererst darüber klar sein, dass jeder von uns, auch ich selbst, beschädigt ist. Das größte Gift unter solchen Umständen ist die überbordende Empörung gegen alles und jeden und die Hetze gegen vermeintliche Feinde. Sigmund Freud bezeichnete diese Bescheidenheit des Neurotikers in seine beschädigte Psyche als 'Krankheitseinsicht'. Nach gut, so selbstquälerisch muss man es vielleicht nicht nehmen. Aber eine Solidarität ohne Einsicht in die eigene Unvollkommenheit wird nicht weit kommen. Wenn es also noch schlimmer kommen sollte als es ohnehin schon ist, dann können wir jetzt schon mal üben, wie wir damit fertig werden. (ws)