Das Undenkbare

Staunendes Baby
Wenn das Denken erst noch kommt...

Es überkommt uns in vielen Nuancen, Schattierungen und Gestalten. Mal ist es empörend, andermal einfach erstaunlich, dann wieder unfassbares Glück, manchmal auch ohne jedes Gefühl einfach nur unmöglich zu verstehen. Am Unheimlichsten ist das Undenkbare vielleicht dann, wenn es gar nicht schwer zu verstehen und der Bereich emotionaler Reaktionen längst überschritten ist: Es tritt etwas ein, das wir nie erwartet haben. Die Realisierung des äußerst Unwahrscheinlichen.

Genau genommen handelt es sich in allen diesen Fällen insofern um nichts Undenkbares, als alles, was bereits eingetreten ipso facto auch denkbar ist. Wenn wir also inhaltlich beschreibend von etwas Undenkbarem reden, meinen wir praktisch immer – ja sogar mit logischer Notwendigkeit – Dinge, die sich sehr wohl und meist sogar sehr einfach denken lassen. Wir haben lediglich nicht damit gerechnet. Solches Undenkbares ist also eine Art begrifflicher Hoax, ein Schabernack, insofern das Wort etwas bezeichnet, was man, wenn es denn tatsächlich eintritt, gar nicht bezeichnen kann. Denn was man bereits sprachlich ausdrücken kann ist genau deshalb eben nicht mehr undenkbar.

Der Einbruch des Undenkbaren in die Naturwissenschaften

Die moderne Physik war bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Undenkbarkeiten konfrontiert, die für viele Menschen bis heute nach wie vor unbegreiflich sind. Wie kann es sein, dass Zustände elementarer physischer Entitäten nur „unscharf“ (Heisenberg) zu bestimmen sind, dass sie bis zum Einfluss gewisser äußerer Faktoren, z.B. ihrer Detektion auf einem Schirm, nicht einmal einen bestimmten Ort im Raum einnehmen? Hier wird das Undenkbare empirischer Fakt: Es ist eben einfach so, und wer’s gerne anschaulicher hätte, widme sich bitte der mathematischen Modellierung dieser Phänomene. Die zeigen nämlich, dass die Wirklichkeit tatsächlich so beschaffen ist, wie wir es uns nicht richtig vorstellen können. Dies muss sogar so sein, wenn die Welt in anderen Bereichen, die wir im Alltag besser verstehen, überhaupt Bestand haben soll. In diesem Sinne sind auch solche Phänomene also nicht schlichtweg undenkbar, sondern nur schwer zu veranschaulichen.

Leuchtender Busch
Die reine Intensität

Es gibt jedoch einen Phänomenbereich, der insofern undenkbar ist, als er in seiner Wirklichkeit nur zu spüren ist. Besonders intensiv berichten uns davon die Mystiker aller großen Religionen. Aber auch die reine Naturerfahrung, noch vor aller kantischer Erhabenheit (die am Ende schnell zur Überhebung wird), erleben wir häufig als einfache Intensität. Dazu bedarf es keines Denkens, ja, das Denken würde der Intensität des Empfindens sogar im Wege stehen.

Moralische Hitze

Die im sozialen Zusammenhang allerdings wichtigste Erfahrung des nur Spürbaren und in diesem Sinne Undenkbaren ist die moralisch überragende Größe einerseits und die unaussprechliche Gemeinheit andererseits. Wenn ein Nelson Mandela nach über 20 Jahren Haft ohne Rachedurst immer noch an eine gute Gesellschaft in Südafrika glaubt und sich sogar tatkräftig für sie einsetzt, dann staunen wir angesichts seiner überragenden moralischen Statur. Nicht nur tritt hier etwas sehr Unwahrscheinliches ein. Wir spüren hier etwas, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Es zieht uns wie ein namenloses, geballtes Ideal mit ungeheurer moralischer Gravitation an. Sein extremes Gegenteil wiederum, das namenlose Grauen, das Sinnlos-Böse schlechthin, dass sich einfach jeder Erklärung entzieht und in diesem Sinne nur erlebt, aber nicht zu Erfahrung werden kann, stößt uns dagegen nicht einfach ab. Es entkräftet uns vielmehr vollständig, betäubt alles Lebendige in uns bis hin zur sozialen Katatonie. Ausschwitz dürfte einer der Begriffe sein, die genau dies besagen: das moralisch undenkbar Schlechte. Darin liegt vielleicht auch das Insistieren jüdischer Verbände auf der Einzigartigkeit der Shoa begründet.

Der unerforschliche Möglichkeitsraum

Das Undenkbare als Wort steht aber nicht nur für eine intensive Leerstelle der Empfindung oder der Moral. Es steht, allgemeiner betrachtet, für einen Möglichkeitsraum, der vielleicht unendlich viel größer ist als alles, was wir jemals denken können. In diesem Sinne wiederum ist das Undenkbare eine Einladung, wenn auch eine riskante. Das Undenkbare ist der noch nicht explorierte Erfahrungsraum. Es ist eine Einladung an die Abenteurer unter uns, die Keimschicht aller sozialen Utopien, die eschatologische Hoffnung auf Erlösung, die Wurzel aller sehr guten und sehr schlechten Ideen. Die Erforschung solcher Erlebnisbereiche befreit allerdings diejenigen, die von einer solchen außergewöhnlichen Reise in die Diesseitigkeit unseres Alltags zurückkehren, sei es aus Kriegs-, Drogen- oder anderen psychischen oder sozialen Ausnahmezuständen, nicht von den alten Maßstäben, die dann wieder an ihr Verhalten angelegt werden. Das sei jedem, der von solchen Erlebnissen träumt, von vornherein deutlich gesagt. Auch hat der Ausflug in die Undenkbarkeit nichts mit quasi-touristischen Unterhaltungsversprechen zu tun, die inzwischen am industriellen Fließband produziert werden. Das Erlebnis des Undenkbaren ist kein neues Fahrgeschäft im Rummel des Lebens.

Hat es dann aber überhaupt einen sozialen Wert? Ich würde vorsichtig sagen: Ja, wenn… Die Bedingung seines sozialen, nicht nur individuellen Werts kann sich aber, eben weil das Erlebte unaussprechlich ist, nur indirekt äußern, als auffällig verändertes, z.B. mahnendes oder motivierendes Verhalten. Das Undenkbare wird am Beispiel seiner menschlichen Botschafter dann zu einer Aufforderung zur Bescheidenheit, zur Selbstreflexion und zur neuerlichen Sammlung eines sich häufig in fortschreitender Sinnlosigkeit verstreuenden Lebens. In kleinerem oder größerem Umfange entdecken wir das Undenkbare dann in jedem von uns. –

Ein philosophischer Disclaimer

Was Sie hier lesen, ist wahrlich kein Statement, das mit praktischen Tipps aufwarten kann: politisch vollkommen unbrauchbar, ökonomisch wertlos, nicht einmal eine originelle Moralpredigt. Es ist nur die Ahnung einer Verunsicherung, die, wenn man ihr unmittelbar begegnet, vor allem das eigene Leben verändert und sogar noch das Leben jener umlenken kann, die davon nur hören, ohne dass sich die genaue Wirkung vorhersagen lässt. Die vorstehenden Zeilen sind nur der Versuch eines Berichts aus dem Jenseits des Undenkbaren. (ws)

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