Der diskrete Charm der Theorie
Dies ist ein Manifest
In seinem umwerfenden Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 - 1990" beschreibt Philipp Felsch die intellektuelle Entwicklung Deutschlands jener Epoche. Er verfolgt sie am roten Faden der Geschichte des Merve Verlags im kaputt-kreativen Soziotop des alten West-Berlin. Es ist über weite Strecken die Geschichte einer Kaskade von Enttäuschungen: Gesucht wurde nach dem Ende der Nazizeit und mitten im Kalten Krieg jener Archimedische Punkt, von dem aus sich diese Gesellschaft überhaupt noch verstehen und womöglich sinnvoll verändern lässt. Gefunden wurde am Ende - nichts. Es begann mit strammer Marx-Lektüre und dem Versuch, 'die Arbeiter' an den Fabriktoren zu agitieren, und lief auf Grund in hysterischer Quacksalberei von allem und nichts. Am Ende war da nur noch ein Regen aus pessimistischem Konfetti atomarer Sinnsucher samt ihren Gurus aller nur erdenklichen Couleur.
"Theorie? Vergiss es." So könnte man das Ergebnis des langen Experiments zusammenfassen, das Felsch so traurig-schön beschreibt. Der Export der seltsamen Textwolle dieser Epoche in die Kunstwelt, verpackt in teuren Buchaufmachungen, eignet sich inzwischen nur noch als biederes Geburtstagsgeschenk. Den aufhaltsamen Abstieg jeglicher Lust am Denken schien real niemand aufhalten zu wollen. Das Ergebnis ist ein Konsumismus, dessen immer noch zunehmende Steigerung einer der wenig hinterfragten Effekte des Internetzeitalters ist, das übrigens gleichzeitig mit dem Fall der Berliner Mauer anbrach). Im saturierten Kerneuropa scheint seit 1990 eine Denkerschöpfung eingetreten zu sein. Man weiß nicht genau, ob sie nur eine kurze Verschnaufpause der ehemals so sprudelnden Intellektualkultur ist oder doch womöglich eine irreversible Atrophie unserer Sensoren für gesellschaftliche Befindlichkeit. Sie lässt uns größerenteils als faule, hedonistischen 'Denktiere' zurück, wie der - übrigens intellektuell ziemlich unterbelichtete - Wiener Aktionskünstler Otto Mühl seinerzeit den so genannten Kleinfamilienmenschen abkanzelte. Das klingt so ähnlich wie der täppische Yeti. Wir scheinen zu verpelzten Nomaden einer realgesellschaftlichen Eiswüste verkommen zu sein.
Das Erwachen des inneren Yeti
Was nun die Theorie betrifft: Hat uns die Lust am Begreifen der Wirklichkeit denn vollkommen verlassen? Der Eindruck drängt sich auf, wenn wir uns wie mittelalterliche Flagellanten an den Polit-Burlesken ergötzen, die sich aus den dröhnend leeren Hirnschalen von Trump, Erdogan, Orban & Co. ergießen, und unsere Zeit im Übrigen an Netflix, Facebook, YouTube und ähnliche Dienste vergeuden. Geht damit nicht der alte, böse Verdacht der 1960er-Linken in Erfüllung, demzufolge wir am Ende alle zu Sklaven einer Orwell-Welt geworden sind? Wir lassen uns gerade von jenen krakenhaften Organisationen stimulieren und fernsteuern, die uns mit süßer Verführungskraft den schnellsten und effizientesten Weg zur totalen Befriedigung aller unserer Bedürfnisse versprechen, einhergehend mit größter Transparenz und Aufklärung über die ultimative Wahrheit aller Geheimnisse. In Wirklichkeit jedoch reduzieren sie ihr Publikum auf einen Rohstoff, eine Sozialpaste, der man möglichst schonend, gleichwohl höchst effektiv nur unser aller Aufmerksamkeit, unser Geld und unsere Arbeitskraft abpresst (siehe dazu den sehr informativen Beitrag im aktuellen Economist).
Drehen wir die Frage probeweise einmal um: Kann man sich in der heutigen Welt überhaupt so verhalten, dass man nicht zum konsumierenden Denktier verkommt? Nun, auf die alten Avantgarden, die uns mit erhobenen Zeigefinger belehren wollen, wo es lang geht, brauchen wir nicht mehr zu warten. So redet heutzutage bereits Donald Trump mit seiner Gefolgschaft. Das heißt aber nicht, dass jenseits dessen nur noch irrlichternder Ideen-Flohzirkus möglich ist. Wer keinen Führer braucht, ist deshalb noch lange kein desparater Zyniker; im Gegenteil. Die Wiedergeburt aus dem Schlammloch des intellektuellen und moralischen Alles-ist-egal ist nur im Gespräch, in der Auseinandersetzung möglich. Um über etwas sprechen zu können, das mehr ist als die Bitte um sofortige Befriedigung aller meiner Bedürfnisse, bedarf es allerdings eines Themas, das einen interessiert. Leider interessieren sich die Menschen in Zeiten des absoluten Narzissmus vor allem für ihre eigene Geltung, und wie sie diese durch entsprechende Postings in den Sozialen Netzwerken erhöhen können. Das ist für viele das Geilste, was es gibt auf der Welt, geiler als Geld und Sex. Das intellektuelle Wiedererwachen aus diesem Zustand setzt also voraus, dass man sich neuerlich aufrafft zu einem Interesse, das den engen Horizont des kindlichen Bedürfnisses nach sofortiger Anerkennung in irgendeiner Form durchbricht. Ein solcher Ausbruch aus dem medial-narzisstischen Konsumrausch setzt eine andere Art der Leidenschaft voraus, und zwar eine, die sich wieder an der Welt und nicht nur (verzweifelt) für sich selbst begeistert.
Archimedes und die Große Suche
Aber wo finden wir einen Anknüpfungspunkt für eine solche Begeisterung, wenn viele der dominanten Medien sich allein darum bemühen, uns mit immer empörenderen Nachrichten nur noch stärker zu schockieren? Gibt es, um mit Adorno zu sprechen, denn noch irgendwo ein gutes Leben im schlechten?
Hier hilft in der Tat die Theorie. Denn wer allein Fakten sucht, wird nichts als Albtraum finden. Und auch praktisches Gutmenschentum wird sich ohne Theorie sehr schnell erschöpfen. Die großen Religionsgründer und ihre bösartigen Brüder, die ideologischen Rattenfänger, fanden allesamt ihr Publikum, indem sie inmitten aller plakativ geschilderten Negativität die positive Vision bei ihren Zuhörern zu entzünden verstanden - was sie auch immer im konkreten Fall als 'positiv' verkauften. Wichtig ist aber, dass eben jenes Publikum tatsächlich in dem Sinne 'positiv' motiviert war, dass sie für eine bessere Welt einzutreten glaubten. Das gilt verrückterweise sogar noch für Rohingya hassende Buddhisten, weiße Suprematisten in den USA und jede andere aktuelle Variation gewalttätiger Intoleranz. Die Frage ist also nicht, ob sie alle 'positiv' motiviert sind (sie selbst sehen sich immer so), sondern wie man die betäubte Begeisterung der nicht bereits radikalisierten Menschheit für die Welt intellektuell so umsichtig aufwecken kann, dass sie diskursfähig bleibt und sich nicht nur als reine Aggression entlädt. Das wiederum wird nur gelingen, wenn wir keine neuen Trugbilder neuer Führer suchen und auch die Gier nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung wieder etwas aufzuschieben lernen (siehe hierzu die berühmten Marshmallow-Experimente). Dafür lockt vom ersten Moment an die Lust auf das Abenteuer des Denkens. Der gesuchte positive Archimedische Punkt dieser Welt war schon immer, um mit Bloch zu reden, das Prinzip der Hoffnung. Damit Hoffnung aber nicht nur lächerliche Tagträume gebiert, bedarf sie eines Skeletts, das sie widerstandsfähig macht: Erst die Theorie verwandelt den Traum in gesellschaftliche Realpotenz.
Die Welt als Möglichkeitsraum
Die Welt ist keineswegs, wie der frühe und etwas engstirnige Wittgenstein sagte, nur "alles, was der Fall ist" (Tractatus logico-philosophicus, Satz 1). Sie ist vor allem ein Möglichkeitsraum, eine unerschöpfliche Zukunft, deren Versprechen sich nur realisieren lässt, wenn man sich mit dem beschäftigt, woher unsere Gegenwart kommt, woher folglich unsere heutigen Leidenschaften kommen, und was daran dem kritischen Blick standhält. Die positive im Gegensatz zur rein negativ-faktischen Welt ist deshalb, soweit wir sie uns zurückerobern wollen, notwendig eine Welt der neuen Theorie von ihr.
Übrigens hat das Wort 'Theorie' seinen Ursprung im griechischen 'theón horán', d.h. der Gottesschau. Diese Gottesschau der alten Griechen war keineswegs eine Nabelschau der eigenen Mystik, sondern umgekehrt und ganz handfest der Besuch von Gesandten in die jeweils benachbarten Kleinstaaten, um zu erkunden, welche Riten und Leidenschaften dort gerade gepflegt wurden. Theorie in diesem Sinne war Außenpolitik, Welterkundung im denkbar intellektuellsten Sinne des Wortes. Eine so verstandene Theorie ist also denkende Praxis der Weltentdeckung und -erzeugung. Wir Heutigen sind nicht die ersten, die diese Kunst (wieder) kennenlernen können. Wir sind eher Nachzügler in ihrer Wertschätzung. Deshalb gilt es zuerst zu lesen, und das heißt: sich faszinieren lassen vom Genie menschlichen Denkens. Und zu lernen, was möglich ist. Das Lesen theoretischer Texte trägt enorm zum Aufladen der erschöpften intellektuellen Lustbatterien bei. Es mag mühsam sein, aber diese Mühe wird belohnt. An ihrem Horizont winkt die Wiederentdeckung des verlorenen Kontinents einer ganz anderen Form von Lebensfreude. Tatsächlich?! Das ist eine ungewöhnliche Behauptung in Zeiten des Konsum- und Medien-Hedonismus. Probiert es doch einfach aus. Und lasst mich wissen, wie es euch dabei ergeht, am besten, indem ihr mir schreibt, was ihr gerade lest - und schließlich selber schreibt. Lasst uns die Zukunft als künftige Geschichte schreiben! [ws]
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