Die alte Mär vom Kampf um Selbsterhaltung

von Wolfgang Sohst

Ein Mädchen bläst in die Glut seiner Möglichkeiten
Der Mensch ist eine Glut, in die man nur zu blasen braucht.

Ein etwas anderes Bild vom Menschen

Von Wolfgang Sohst.

Es gehört zu den Grundvorstellungen vom Menschen wohl in jeder Kultur und zu jeder Zeit, dass wir ihm etwas zuschreiben, dass wir seine Identität nennen. Darunter lässt sich freilich vieles verstehen. Nicht nur der Mensch hat eine Identität oder soll eine haben. Auch alle anderen Gegenstände, mit denen wir ständig umgehen, müssen etwas aufweisen, was sie über die Zeit und allerhand Veränderungen hinweg zu diesen Gegenständen macht und bleiben lässt, von ihrer Entstehung bis zu ihrem Vergehen, beim Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Nebenbei: Die Sprache ist verräterisch; der Mensch ist grammatisch ein Maskulinum ohne feminines Gegenstück, und zwar in allen mir bekannten Sprachen. Hierin zeigt sich, dass das Menschenbild anthropologisch ein Männerbild ist, insofern der Frau nur in abgeleiteter Form das Menschsein zuerkannt wird, wie es ja bereits wie selbstverständlich die Bibel lehrt. Dort wird in der Genesis im Paradies die Frau dem Manne aus den Rippen geschnitten. Für ihn ein schmerzhafter Verlust, für sie ein zweifelhafter Gewinn - wenn es denn so gewesen wäre.

Der Mensch hat als Gegenstand also eine Identität, vor allem als sozialer "Gegenstand": Könnten wir vom einzelnen Menschenexemplar nicht sagen, es sei von seiner Geburt bis zum Tod immer derselbe Mensch, so wäre es um unsere Sozialität schlecht bestellt. Wir unterscheiden allerdings zwischen der rein biologischen Existenz und der überbiologischen Person. Verliert ein Mensch durch einen Unfall, Krankheit oder im Krieg ein Körperteil, ist er immer noch derselbe Mensch für uns, selbst wenn er danach nicht nur seine alte Arbeit womöglich nicht mehr ausüben kann, sondern auch, wenn dieses oder ein anderes einschneidendes Ereignis seine Persönlichkeit stark verändert. Letztlich dominiert in unserer Gesellschaft die biologische Identität. Persönlichkeitsveränderungen können, egal aufgrund welcher Ursache, so stark wie nur irgend denkbar auftreten; wir werden deshalb niemals davon abgehen zu behaupten, dass es diese, also eine und dieselbe Person, sei, die die jeweilige Persönlichkeitsveränderung erlitten habe. Wichen wir davon ab, wäre eine solche Aussage gar nicht möglich, was sozial zu großer Verwirrung führen würde. Seltsamerweise kommt die zumindest näherungsweise Anerkennung eines Identitätswechsels noch am ehesten in Betracht, wenn auch nicht im formalen, d.h. staatlich festgestellten Sinne, beim Wechsel des Geschlechts einer Person. Wer sein Geschlecht, sei es durch Operation oder reinen Bekenntnisakt, nachhaltig und öffentlich gegenüber der gesamten Umwelt ändert, erzeugt bei seiner Umwelt einen stärkeren Eindruck des Identitätswechsels als beispielsweise ein Mensch, der infolge eines Hirntumors oder eines Verkehrsunfalls mit Hirnschaden eine ebenfalls nachhaltige und grundlegende Persönlichkeitsveränderung erleidet: Zumindest nach meiner Erfahrung verhält es sich so; ich weiß allerdings nicht, ob es hierzu bereits sozialpsychologische Untersuchungen gibt. Menschlich-soziale Identität ist in nicht geringem Umfange bis auf den Grund des Begriffs vor allem Geschlechtsidentität. Aber das sage ich, wie gesagt, hier nur nebenbei.

Was das ganze Gerede von der Identität des Menschen allerdings übergeht und nicht selten sogar mit kruder Gewalt verdrängt, ist der statische Charakter eines jeden Identitätsbegriffs. Jemandem eine Identität zuzuschreiben ist weitgehend dasselbe wie von irgendeinem Gegenstand des Alltags zu sagen, das sei eben dieser Gegenstand. Denn nur dann ist er zu diesem und jenem Zweck zu gebrauchen, deswegen gehört er jemandem, d.h. er befindet sich in einem Netz von Befugnissen und Verboten. So auch beim Menschen: Dieser Person habe ich eine Wohnung vermietet, nicht irgendwem. Diese Person steht in einem Arbeitsverhältnis mit einer Firma, nicht irgendwer. Diese Person ist Ehefrau oder -mann, Präsident, Bürger, Täter, Opfer, Held oder Versager, Träger von Rechten und Pflichten, was auch immer. Identität ist hier in ihrer statischen Funktion die erste Notwendigkeit zur Erzeugung sozialer Stabilität. Und das ist auch gut so, könnte man mit dem ehemaligen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit bei seinem Bekenntnis zur Homosexualität sagen. Aber es ist eben nicht alles. Und vor allem: Eine solche „Statifizierung“ dient gar nicht der jeweiligen Person selbst, oder höchstens indirekt, insofern sie dadurch die Möglichkeit ihrer Sozialität realisiert. Die Person an sich, vielleicht auch jede reale Person, ist nämlich viel mehr als ein statisches Ding. Sie ist dynamisch.

Was es heißt, eine dynamische Person zu sein (und das sind wir alle, meine ich), erkennt man ganz leicht daran, dass wohl (fast) jeder Mensch, insbesondere der junge, gerne etwas lernt, sich gerne entwickelt. Er tut es bereits, wenn er vom Embryo zum ausgewachenen Exemplar seiner Gattung reift. Was aber heißt das: „sich entwickeln“ im Hinblick auf die Person? Ich denke, es kann nur etwas sehr Grundlegendes bedeuten, nämlich die Struktur seiner Persönlichkeit zu entfalten. Zwischen dem Neugeborenen und dem aus ihm hervorgehenden Erwachsenen liegen Welten. Wer kann hier noch mit Fug und Recht behaupten, die Identität einer solchen Person sei ihrer Entwicklung vorgängig? Tun wir dies nicht allein deshalb, um sozial miteinander zurecht zu kommen, d.h. aus praktischen, zunächst nicht für das Individuum, sondern vor allem für die Gesellschaft nützlichen Erwägungen heraus?

Persönliche Entwicklung ist also etwas, das die gesamte Person betrifft, und es ist darüber hinaus etwas, was wir alle sehr schätzen und bei unseren Kindern sogar aus biologischer Notwendigkeit heraus zwingend erwarten. Ein Kind, das sich nicht entwickelt, ist letztlich krank insofern, als es seine dringend erwartete und als normal empfundene Dynamik nicht entfaltet. Aber auch bei erwachsenen Menschen wird Entwicklung an sich, d.h. primär als etwas sehr Positives gewertet, auch wenn sie durch negative Ereignisse durchaus in die „falsche“ Richtung gehen kann, z.B. wenn ein Mensch sich durch den Lauf seines Lebens zum Kriminellen oder Psychopathen entwickelt.

Mir geht es aber gar nicht um die Wertung von Entwicklung als positiv oder negativ. Vielmehr geht es mir um die grundsätzliche Unterdrückung des dynamischen Aspekts in unserem Menschenbild zugrund seines statisches, sprich: identitätslastigen Konzepts. Das klingt zunächst sehr theoretisch, ist es aber keineswegs. Es hat vielmehr drastische ethische Konsequenzen.

Seit Menschengedenken kultiviert vor allem die westliche Kultur das Menschenbild vom primär eigennützigen Menschen. Nicht, dass man ihm diesem Bild zufolge nicht auch gestatten würde, ab und zu sozial, mitfühlend, altruistisch etc. aufzutreten. Im Gegenteil, wir wünschen uns dies sogar von unseren Mitmenschen – angeblich wiederum, weil es uns selber nützt. Doch solcherlei vorgebliche Verkleidungen des Eigennutzes sind im westlichen Menschenbild allesamt nur Epiphänomene des primären Eigennutzes. Von der antiken Stoa über die neuzeitliche Vorstellung vom Politischen bei Hobbes und Machiavelli und Herbert Spencers survival of the fittest bis hin zu all den kruden zeitgenössischen Apologeten einer Dominanz des Eigennutzes ist es ausschließlich dieses Motiv des eigennützigen, weil auf Selbsterhaltung bedachten Individuums, das ihrem Menschenbild zugrunde liegt. Doch das Menschenbild eines solchen ethischen "Primäregoismus" ist eines der eminenten Angst um den Bestand und die Stabilität der statischen Identität. Das ist die ethische Konsequenz einer Verengung des Menschen auf ein Ding, das nur sich selbst erhalten will und deshalb seine Identität so stark macht, dass es damit seine womöglich ebenso starke Entwicklungsdynamik weitgehend unterdrückt.

Wenn wir dieses sehr starke und inzwischen auch global dominante Menschenbild von der ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich statischen Identität in seiner Absolutheit in Frage stellen wollen – wozu infolge seiner inhärenten Aggressivität guter Anlass besteht –, so müssen wir uns überlegen, was als plausible Gegenposition dazu überhaupt in Frage kommt. Ich meine, dass es neben dem primären Selbsterhaltungsegoismus ebenfalls und mit einigem Recht die genauso primäre Entfaltungsdynamik eines jeden Menschen ist, die den "König Eigennutz" von seinem ideellen Thron stößt. Erkennen wir das Streben des Menschen nach Entwicklung als genauso fundamental an wie sein Streben nach Selbsterhaltung (wofür sich viele Beispiele anführen lassen), so muss dieser Märchenkönig einen zweiten Herrscher neben sich dulden, nämlich jenen, der nicht nur sein, sondern vor allem werden will. Dieses Werden-wollen ist letztlich gar nichts originär Menschliches. Der Mensch hat es vielmehr aus seiner biologischen Herkunft geerbt (alle Lebewesen entwickeln sich, sowohl individuell, als auch als Art), und alle Lebewesen haben es wiederum von der organischen, dann der anorganischen Chemie, am Ende bis hinunter zur elementarphysikalischen Ebene geerbt, in einer auf jeder Ebene sich neuerlich wandelnden Form: Alles in unserem Universum ist offensichtlich in einer riesigen Entwicklungskette verwoben. Was auf der physikalischen und chemischen Ebene noch „einfache“ Naturkräfte sind, wird auf der biologischen zum Trieb und Drang und auf der kognitiv-sozialen Ebene des Menschen schließlich zum personalen Entwicklungsstreben.

Manch einer wird sich jetzt vielleicht am Kopf kratzen und fragen: Wie kommt der eigentlich darauf? Meine Antwort: Warum eigentlich nicht? Schon mal darüber nachgedacht, was das evtl. für unser Zusammenleben bedeutet?

Der Primat der Selbsterhaltung und das daran anschließende Identitätsstreben ist nur ein Ideologem, eine Erklärung unter vielen. Ich bestreite lediglich, dass es das einzige ist, das anthropologische Geltung beanspruchen kann. Die Beweislast liegt folglich nicht bei mir, sondern bei all denen, die behaupten, Selbsterhaltungsstreben und der angeblich allgegenwärtige Kampf um Macht und Identität seien das einzige ursprüngliche movens der conditio humana.

Und da wir nun schon lateinisch plaudern, möchte ich schließen: Ecce homo! Du bist mehr als nur ein Bündel Angst um deine Identität. Du willst dich entwickeln.

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