Gehorsam

Kohlköpfe und ein Baum dazwischen

Mit welchem Recht tritt dieser Baum gegenüber den Kohlköpfen auf?

Früher war alles anders

Wenn es ein Wort gibt, an dessen Bedeutungsveränderung sich der Wandel der Zeiten in vielen Kulturen ablesen lässt, dann ist es das Wort 'Gehorsam'. Bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs (und dann noch einmal und noch extremer unter den Nazis) war der Spruch "Gehorsam, Treue, Tapferkeit ist Deutschlands Söhnen Ehrenkleid" schlichter common sense. Heute hat 'Gehorsam' bestenfalls noch in religiösen Zusammenhängen gegenüber dem jeweiligen Gott einen positiven Klang, das aber auch ständig abnehmend. Darüber hinaus verbinden wir mit 'Gehorsam' eher Konnotate wie 'Unterwerfung', 'Zwang', 'Fremdbestimmung', 'Tyrannei', 'Strafe' und ähnliches. Was aber lässt sich jenseits solcher weltanschaulichen Wechselfälle über den Gehorsam sagen?

Der genaue Blick

Diese Frage ist gleichermaßen eine entwicklungspsychologische, soziologische, philosophische und juristische:

  1. Entwicklungspsychologisch ist Gehorsam eine zweischneidige Sache. Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn man sagt, dass Gehorsam - verstanden als die Einsicht in soziale Normen bis hin zu deren Internalisierung, so dass es keiner ständigen Überwachung oder gar Bestrafung der später erwachsenen Person bedarf - eines der wichtigsten Verhaltens- und Lernziele einer jeden Gesellschaft ist. Ein Kind, dass nicht die richtige Art (neben vielen falschen Arten) von Gehorsam lernt, wird im späteren Leben drastisch verringerte Erfolgschancen auf allen Ebenen haben: im Beruf, in den privaten Beziehungen, im Verhältnis zu sich selbst. Andererseits führt eine falsche Sozialisierung unter Umständen auch zu einer lebenslangen Angst vor Bestrafung oder Anerkennungsentzug. Das hat zur Folge, dass diese Art von Gehorsam, der die eigene Entwicklung unterdrückt, äußerst schädlich sowohl für die eigene Person als auch für deren Umwelt ist. Falscher Gehorsam kann nicht nur zu extrem verringertem Selbstwertgefühl, sondern auch und in gewisser Weise umgekehrt zu einer extrem autoritären und gewalttätigen Persönlichkeit führen, die ihre eigenen Minderwertigkeitsgefühle sehr aggressiv externalisiert.
  2. Soziologisch ist Gehorsam ein kollektives Strukturmerkmal einer jeden Gesellschaft. Auch hier sehen wir ein irritierendes Vexierbild. Einerseits funktioniert kein Unternehmen, kein Verein und keine Behörde ohne selbstverständlichen Gehorsam der meisten Mitarbeiter:innen. Es ist auch falsch zu behaupten, dass Gehorsam grundsätzlich die gesellschaftliche Kreativität dämpft oder gar verhindert. Gute, d.h. innovative, tolerante und experimentierfreudige Teams zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie ihre interne Hierarchie anerkennen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die hierarchisch höheren Personen in ihrer Position von den unteren Mitgliedern anerkannt werden und ihre Position nicht missbrauchen. Diese Bedingung macht die Angelegenheit kompliziert. Denn im historischen Wandel ändern sich auch die Bedingungen möglicher Anerkennung hierarchischer Differenzen. Menschen sind sehr bereitwillig zum Gehorsam, wenn diese Bedingungen aus ihrer subjektiven Perspektive erfüllt sind. Dies wiederum eröffnet weitere Missbrauchs- und Manipulationsmöglichkeiten. Wer sich heute beispielsweise als Dhschihadist:in oder früher als überzeugter Nazi in den sicheren Tod schicken lässt, ist subjektiv von der Richtigkeit ihres bzw. seines Gehorsams überzeugt. In der allgemeinen Anschauung handelt es sich bei dieser Form von Gehorsam allerdings eher um Wahnsinn. Über den historischen Bedingungswandel für die Akzeptanz von Gehorsam hinaus haben wir es also noch mit einer zweiten Differenz zu tun, nämlich jener zwischen der subjektiven Überzeugung und dem allgemeinen, öffentlichen Urteil über das situativ Gebotene.
  3. Philosophisch ist der Gehorsam wiederum eine Sache der Rechtfertigung von Überzeugungen und logischen Schlussfolgerungen, also ein epistemisches bzw. formales Problem. Hier geht es um die Begründung des Gehorsams aber erst, wenn jemand eine andere Person danach fragt. Der logisch richtige Schluss fordert eine kognitive Unterwerfung unter die Folgen der Konklusion. Andernfalls wäre die gesamte Logik ein Spiel ohne soziale Relevanz. Die erkenntnistheoretische Begründung eines solchen Schlusses kommt zu einer solchen axiomatischen Grundstruktur des Denkens lediglich hinzu. Die Wirklichkeit kann der Logik aber lediglich etwas praktische Vernunft im Sinne einer ausgleichenden Angemessenheit des logisch richtigen Schlusses hinzufügen. Der zentrale Begriff einer jeden logischen Gehorsamsforderung ist 'Wahrheit'. Wer etwas Wahres behauptet, äußert damit zugleich einen speziellen und letztlich absoluten Geltungsanspruch. Kombiniert man eine wahre Aussage über einen gegebenen Zustand mit einer wahren normativen Aussage in dem Sinne, dass die geltend gemachte Norm allgemein anerkannt wird, ist die Folge ein praktisch unbedingter Gehorsamimperativ. Liegt beispielsweise eine verletzte Person auf der Straße, was von niemandem bestritten wird, und gilt ferner unbestritten, dass man verletzten Personen in der Regel helfen soll, so ist die Folge dieser Situationsmerkmale eine Gehorsamsforderung, der man sich nur schwierig entziehen kann. Die formale Struktur mag als philosophische Frage sehr abstrakt klingen. Ihre realen Folgen sind es keineswegs.
  4. Juristisch ist der Gehorsam, obwohl von ihm nirgends in den vielen Gesetzen der Staaten die Rede ist - es klingt in den Ohren der Normadressaten nicht gut, wenn man von ihnen explizit Gehorsam verlangt - dennoch der Kern allen Rechts: Es gäbe kein Recht, wenn die Rechtsnorm realiter nicht ein Gehorsamsimperativ wäre. Alles Recht formuliert ein Sollen, wenn auch in verschiedenen 'Härtegraden'. Viele Rechtsnormen haben äußerlich beispielsweise den Charakter von Empfehlungen, d.h. sie sind regulativer Natur. Wer sein Testament verfasst, sollte dies in einer der Formen tun, die das Gesetz für dessen Gültigkeit vorschreibt. Ein Testament, das diese Formvorschriften verletzt, ist schlicht ungültig. Es ist rechtsformal gesehen gar kein Testament, sondern nur ein beschriebenes Stück Papier. Gleichwohl ist niemand gehindert, solche ungültigen Testamente zu verfassen. Die Rechtsordnung versagt ihr oder ihm lediglich die Unterstützung bei der Durchsetzung, und auch das Finanzamt nimmt bei der Berechnung der Erbschaftsteuer darauf keine Rücksicht. Recht ist auf der objektiven Ebene also Ausdruck einer konkreten Sozialordnung; subjektiv ist es vor allem und überall Gehorsamsforderung, die unter Umständen mit kollektiver Sanktionsautorität realisiert wird. Soziale Ordnung und Gehorsam sind zwei Seiten derselben Medaille.

Nüchtern, nüchtern...

Führt man sich dieses Für und Wider der Rolle des Gehorsams von der persönlichen Entwicklung über die sozialen Gewohnheiten bis zur sankionierten Rechtsordnung vor Augen, so schwindet jede Vorab-Empörung und -Begeisterung und es bleibt eine ernüchternde Vieldeutigkeit. Offenbar hängt alles davon ab,

  • welche subjektiven und objektiven Akzeptanzbedinungungen für einen gerechtfertigten Gehorsam aktuell bestehen und
  • welchen Urteilshorizont das mit einer Gehorsamforderung konfrontierte Subjekt aufspannt, um zu einem Entschluss über aktuellen Gehorsam oder Ungehorsam zu kommen.

Je nach Charakter der Situation, in dem Fragen der Forderung, der Akzeptanz oder der Ablehnung von Gehorsam gestellt werden, wird das Urteilsprozedere ziemlich unterschiedlich ausfallen. Ein Soldat, der sich vor einem Militärgericht wegen Ungehorsam verantworten muss, steht unter deutlich stärkeren Begründungszwängen als ein Kind, dass sich dafür rechtfertigen soll, neuerlich nicht der Erzieherin oder dem Erzieher im Kindergarten gehorcht zu haben.

Die Politik, die Kunst und der Gehorsam

Ein besonderer Fall ist hier die politische Sphäre. Sie bezeichnet jenen Bereich einer Gesellschaft, wo die Aspiranten politischer Macht unter Wettbewerbsbedingungen nicht nur um ihre Macht, sondern auch um die Regeln kämpfen, die sie im Falle ihres Sieges etablieren dürfen. Weil diese Sphäre die Keimschicht sozialer Ordnung ist, d.h. weil dort soziale Ordnung überhaupt erst gemacht und fortgeschrieben wird, können auf die Teilnehmer dieser Konkurrenz nicht dieselben Regeln angewandt werden, die für die späteren Adressaten der aus der politischen Sphäre fließenden Normen gelten. Politiker:innen können deshalb beispielsweise (bis auf wenige Ausnahmesituationen) formal ungestraft lügen, und der straf- und zivilrechtliche Zugriff auf ihre politischen Entscheidungen ist ebenfalls weitgehend eingeschränkt. Dafür unterliegen sie dem häufig höchst emotional vorgetragenen Urteil des Publikums, über das sie politisch herrschen. Auch vor ihrer Verstoßung in den nächsten Wahlen können Politiker:innen öffentlich 'zerrissen' werden, was nicht selten persönlich so belastend ist, dass sie freiwillig zurücktreten. Die politische Sphäre ist der Urgrund aller sozialen Dynamik, wo die öffentlichen Forderungen und Akzeptanzbedingungen des allgemeinen Gehorsams zuallererst verhandelt werden.

Eine andere und vielleicht überraschende Frage ist es, ob die Fähigkeit zum Gehorsam nicht auch eine wichtige Bedingung kreativer Leistungen ist. Der verbindende Begriff ist hier der des Lernens. Schöpferisches Verhalten ist praktisch nie eine creatio ex nihilo, sondern vielmehr das Ergebnis geschickter Modellübertragung und Rekombination vorhandener Elemente aus ganz anderen Zusammenhängen. All solchen Neuschöpfungen geht aber zwingend ein Lernprozess voraus, weil die funktional oder semantisch neuen Zusammenhänge erst einmal von bestehenden abgeschaut werden müssen. Lernen ist zum Teil gehorsames Verhalten, insofern man sich zunächst der Situation aufmerksam zuschauend unterwerfen muss, in der es etwas zu lernen gilt. Wer von vornherein meint, alles verstanden zu haben und besser zu wissen, wird nichts lernen und vermutlich auch keine besonders kreative Person sein, denn sie meint ja schon alles zu wissen und zu können.

Aus all dem folgt, dass der Gehorsam als persönliche Fähigkeit im Alltag mehr eine Gleichgewichtsübung als die Unterwerfung unter einen Zwang ist. Wer den Balanceakt zwischen Folgen und Führen, zwischen Zurückhaltung und Vorpreschen, zwischen Geltenlassen und dem Anspruch auf Geltung hinbekommt, hat vermutlich nicht nur die größten Erfolgschancen in dem, was sie oder er will, sondern darf auch mit der höchsten Belohnung an Sinnschöpfung rechnen. Denn ein sinnvolles Leben ist zu nicht geringen Teilen ein lernendes Leben, wo das Erlernte wieder zu neuer Anwendung kommt. (ws)

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