Lost and Found in Translation

Eine tentative Kritik

Tasos Zembylas: Die Translation als Kulturtechnik
Translation ist in erster Linie soziale Praxis

Von Tasos Zembylas
(Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien)

Ein Dirigent probt mit einem Orchester. Er verzichtet auf den Taktstock, dafür gestikuliert er umso stärker. Doch wenn sein Körpereinsatz für die effektive Feinabstimmung mit den MusikerInnen nicht ausreicht, greift er auf Sprachbilder zurück: „Süditalien! Spielen Sie das mit einem Fischgeruch in der Nase“, „Ein bisschen glücklicher, bitte. Da schöpfen Sie Hoffnung!“, „Das muss klingen wie Vanillesauce“. Die MusikerInnen scheinen ihn zu verstehen und spielen im Sinne des Dirigenten weiter. Was findet hier genau statt z.B. in der Einbildungskraft des Dirigenten, beim Deuten seiner Äußerungen, beim Verändern der Spielweise der MusikerInnen?

Die Schwierigkeit zu beschreiben, wie der Dirigent zu seinen metaphorischen Bildern kommt, wie die MusikerInnen diese als Spielanweisungen verstehen und in ihrem Handeln umsetzen, liegt nicht zuletzt in der Bedeutsamkeit ihrer geteilten musikalischen Praxis, die weitgehend implizit bleibt. Metaphern sind in der lokalen kulturellen Erfahrung einer Sprach­gemeinschaft verwurzelt. Ihre Kohärenz zu erläutern verlangt, diese Kultur umfassend zu beschreiben. Doch das ist eigentlich unmöglich, denn viele kulturelle Aspekte sind implizit. Dazu kommt, dass der Dirigent seine Sprachbilder aus einem Moment heraus entwirft und die MusikerInnen diese in erster Linie intuitiv erfassen. In beiden Fällen handelt es sich um ein stummes Wissen (tacit knowing) über die kulturelle Semantik von Sprachbildern. Die Bildung und das Verstehen von Metaphern stellen exemplarische Beispiele eines „intransitiven Ver­stehens“ (Ludwig Wittgenstein) beziehungsweise eines „undefined understanding“ (Michael Polanyi) dar, die in jeder praktischen Tätigkeit vorkommen und den Kern jeder Handlungs­kompetenz ausmachen.

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Das lateinische Wort translatio ist abgeleitet von translatus, dem Partizip Perfekt Passiv des Verbs transfero; letzteres meint „etwas woanders hintragen“ oder „übertragen“, auch von „einer Uferseite zur anderen übersetzen“. Das ist auch die wortwörtliche Bedeutung von Metapher, ein Wort, das aus dem altgriechischen Verb μεταφορεω stammt („μετα-“ steht für „trans-“ und „φορεω“ für „fero“). Die semantische Verwandtschaft zwischen Translation und Metapher ist also offensichtlich.

Der Translationsbegriff der Translationswissenschaften ist selbst eine tote Metapher; das heißt, der Begriff wird gebraucht, um einen Gegenstand, die sprachliche Übersetzung oder eine konkrete Tätigkeit, das Übersetzen, direkt zu benennen, womit sein metaphorischer Charakter unerkannt bleibt. Im vorliegenden Text konzentriere ich mich primär auf den Translationsbegriff in der Kulturtheorie. Dieser wird häufig in einer viel breiteren Bedeutung gebraucht. Der kulturtheoretische Translationsbegriff bezeichnet Akte des Bedeutens, der Kommunikation, des Handelns – also kulturelle Prozesse – und interpretiert diese als permanente Übersetzungen von Diskursen in Praktiken und umgekehrt von Praktiken in Diskurse. Diese stetigen Über-, wie auch Um- und Fortsetzungsoperationen zwischen den symbolischen, diskursiven und materiellen, praktischen Ebenen, zwischen unterschiedlichen Medien und symbolischen Formen sind vielschichtig und greifen ineinander. Es überrascht folglich nicht, wenn uns einzelne Phänomene, wie etwa das Zusammenspiel in einem Orchester, als Amalgam aus Diskursen und Praktiken erscheinen. Brüche, Diskontinuitäten und Inkommensurabilitäten bleiben oft unter der Wahrnehmbarkeitsschwelle, es sei denn, sie nehmen als konzentrierte Irritationen und soziale Konflikte eine unübersehbare Gestalt an.

Zu behaupten, dass kulturelle Translationsprozesse allgegenwärtig sind (z.B. Homi Bhabha), heißt, das Konzept der Übersetzung und Übertragung zum paradigmatischen Modell der Kultur beziehungsweise der Bedeutungsproduktion zu erklären. Diese Diskussion findet spätestens seit den 1960er Jahren (Max Black, Hans Blumenberg, Jacques Derrida, Paul Ricoeur, George Lackoff u.a.) statt. Translation ist, möchte man sagen, die zwingende Folge von Transfer jeder Art (Handel, Mobilität, Migration, Eroberung, …). Kulturelle Begegnun­gen dieser Art lösen Translationsakte aus, weil die kommunikativen Codes und Konventionen sowie die Rahmenbedingungen der Begegnung in der Regel für die involvierten Personen alles andere als vertraut und eindeutig sind. Diese These – das Konzept der Übersetzung als paradigmatisches Modell der Kultur – ist aber keine rein kulturtheoretische, weil sie zentrale Konzepte wie Subjektivität, Verstehen, soziale Ordnung, Macht, sozialer Wandel tangiert. Solche Überschneidungen machen die Translationstheorie zu einem komplexen und natur­gemäß debattenreichen Ansatz.

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Eine Museumspädagogin begleitet eine Gruppe von BesucherInnen durch die Ausstellungs­räume, gibt ihnen Hintergrundinformationen zu den präsentierten Bildern und beantwortet ihre Fragen. In einem Konzertsaal spricht vor Beginn der Aufführung die Dirigentin zum Publikum und erläutert die musikalische Komposition, die gespielt wird. In einer Zeitung bespricht eine Literaturkritikerin einen eben erschienenen Roman und kommentiert inhalt­liche, sprachstilistische und erzähltechnische Aspekte des Werkes. Seit einigen Jahren deuten viele KunstwissenschaftlerInnen solche Situationen als Translationsprozesse. In zurückliegen­den Dekaden sprachen sie eher von Vermittlungs- oder Mediationsprozessen ebenso von Interpretationsprozessen. Sind diese Konzepte miteinander verwandt?

Im Sinne eines generalisierten kulturtheoretischen Translationskonzepts kann jede Artikulation, jede Bedeutungsproduktion als Translationsakt verstanden werden. Ein solcher Translationsbegriff umfasst auch den Bereich der vorbegrifflichen Erfahrung. „Alles ist übersetzt“, proklamiert Bruno Latour. Es ist merkwürdig, wie sich der Translationsbegriff trotz aller relevanten philosophischen Unterschiede sowohl Hegels Konzept der Vermittlung (alles Bewusstsein ist durch den „Geist“ vermittelt) als auch Schleiermachers Konzept der Interpretation nähert.

Was ist innerhalb der Kultur oder konkret in der Musik kein Ergebnis einer Translation oder einer Vermittlung und Interpretation? Man denke nur an die Instrumente, an die MusikerInnen, an die Rolle der Technologie, an die Notate, Aufnahmen, Bühnen usw. Angesichts all dieser Aktanten und Mediationsmomente lässt sich wohl ernsthaft fragen, ob in Schaffensprozessen beispielsweise ereignishafte Momente und Zufälle eine Emergenz generieren, die nicht durch den breiten Translationsbegriff erfasst werden kann? Wenn der Translationsbegriff einen totalen Spielraum beansprucht – alles Kulturelle ist übersetzt und somit übersetzbar –, dann bleibt nichts, was er nicht erfasst. Mit seinem globalen Anspruch kratzt er gefährlich nah an einer theoretischen Todesfalle: dem Totalitären.

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Translation (Übertragung, Übersetzung) meint eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen oder eine Veränderung von einem Zustand in einen anderen. Dem kulturwissen­schaftlichen Translationsbegriff wohnt also eine räumliche und/oder eine zeitliche Dimension inne. Verfolgt man diese Überlegung weiter, kommt man unausweichlich zur Frage nach dem Ursprungsort oder Urzustand dessen, was durch die Translation eben übersetzt wird. Denkt man dabei an eine Textübersetzung, so entstehen durch die Übertragung von einer Sprache in eine andere mehrere syntaktische und semantische Verschiebungen. Die Übersetzung wirkt auch auf das Verständnis des Ursprungs- oder Quellentextes zurück. Das beste Beispiel dafür liefern die zahlreichen Übersetzungen der Bibel, die mit bestimmten, zu einer gegebenen Zeit aktuellen Denkstilen und Leseweisen korrelieren.

Die Frage nach dem Ursprungstopos ist in der Kulturtheorie problematisch. Jacques Derrida sprach kritisch von einer „Ursprungsmetaphysik“ und seine Dekonstruktion der Ursprungsidee wurde bald von Stuart Hall übernommen und kulturtheoretisch genützt. Ohne einen klaren Anfang erscheinen folglich kulturelle Transfer- und Übersetzungsprozesse als iterativ und inkrementell. Dennoch löst die Zurückweisung des Ursprungsbegriffs nicht alle theoretischen Probleme auf, die der Translationsbegriff mit sich bringt: Wenn wir davon ausgehen, dass Translationsakte nicht aus dem Nichts entstehen, dann setzt jede Translation etwas, zum Beispiel einen Diskurs, eine Praxis, ein Regelwerk, voraus. Das heißt, der kulturtheoretische Translationsbegriff trägt eine (meines Erachtens nicht ausgesprochene) Ontologie mit sich.

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Diskurse und Praktiken, die im Zuge von Weitergabe, Aneignung, Aktualisierung vielfach übersetzt werden, müssen eine ontologische Dimension aufweisen, denn ansonsten könnte der Translationsbegriff keine zentrale Bedeutung in der Kulturtheorie beanspruchen. Die ontologische Dimension, die hier angesprochen wird, bezieht sich auch auf die Konstitution dieser Diskurse und Praktiken. Wann, wie, wodurch und durch wen treten Diskurse und Praktiken und in der Folge Translationsakte in Erscheinung?

Auf diese Frage bieten philosophische Denktraditionen sehr unterschiedliche Antworten. Humanistische DenkerInnen weisen auf menschliches Handeln hin, der Materialismus auf gesellschaftliche Bedingungen, der Strukturalismus auf objektive Strukturen, der Textua­lismus auf die Zentralität und Selbstorganisation der Sprache, der Poststrukturalismus auf zugrundeliegende überindividuelle Dispositive („Habitus“, „Ordnungen“, das „unbändige Begehren“). Und es gibt schließlich auch noch die Theologie, die einen transzendentalen Erstbeweger als Grund alles Seienden sieht. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden (also des menschlichen Handelns, der Institutionen, der Strukturen, der Ordnungen, …) ist ebenfalls unumgänglich. Die kulturwissenschaftlichen Translationstheorien können sich der Probleme der gegenwärtigen Sozialtheorie, die bei der Analyse und Erklärung sozialer Konfigurationen entstehen, nicht entziehen. Was ermöglicht menschliches Handeln, Institutionen, Strukturen und soziale Ordnungen?

Wer diese Frage liest und kurz darüber nachdenkt, wird den Geruch eines „metaphysi­schen Bratens“ vernehmen. Das Begehren aus dieser Zirkularität auszubrechen, hat alle Metaphysikkritik immer schon vorangetrieben. Wie ich später ausführen werde, hoffe ich mit dem Praxisbegriff die ontologischen Fragen der kulturwissenschaftlichen Translationstheorie einigermaßen klären zu können.

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Die Rückbesinnung auf das Konkrete kann helfen, abstrakt formulierte Fragen zu erhellen. Dafür benötige ich nur einige gute Beispiele zu finden – was einfacher klingt als es ist: Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorski; Frida Kahlos berühmtes Selbstporträt Die gebrochene Säule, Paul Celans Todesfuge; Samuel Becketts Warten auf Godot; die choreo­graphische Inszenierung der Die sieben Todessünden von Pina Bausch; Jimmy Hendrix’ legendäres Spiel der amerikanischen Nationalhymne auf seiner psychedelischen E-Gitarre usw. Die Artikulation von Erfahrungen, Ideen, Empfindungen in einer künstlerischen Form kann zweifelsohne vielgestaltig sein.

Aber sind solche künstlerischen Artikulationen überhaupt Translationsakte, beziehungs­weise, wie Umberto Eco pointiert fragte, stellen sie „quasi dasselbe mit anderen Worten (oder Mitteln, Anm. T.Z.)“ dar? Gibt es eine relevante Erfahrung, Idee oder Empfindung vor dem Schaffensakt? Wir können vermutlich solche Fragen nur kasuistisch beantworten. Das heißt, in einem Fall kann es eine Evidenz für eine Bejahung geben, aber in einem anderen Fall nicht. Für alle Fälle können wir hingegen argumentieren, dass Translationsprozesse generativ sind: Sie bringen Neues hervor. Doch auch die Wiedergabe desselben mit anderen Mitteln führt zu semantischen Verschiebungen, so Jacques Derrida, und können Keime für Neues sein. Die Wiedergabe erzeugt ein Zweites, ein Nicht-Identisches in der n-ten Potenz, so auch Gilles Deleuze. Was bringt also der kulturtheoretische Translationsbegriff zu Tage, was den zwei eben genannten Philosophen der Differenz vielleicht entgangen ist?

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Die Auffassung, dass künstlerisches Schaffen im Wesentlichen aus Translationsakten von Erfahrungen, Ideen, Empfindungen hervorgeht, verortet den Translationsakt im menschlichen „Geist“. Translation sei demnach ein mentaler Akt oder anders formuliert: Die Durchführung von semantischen Übertragungen wird als grundlegende Fähigkeit des menschlichen Denkens verstanden, so George Lackoff. Sowohl bei Übertragungen als auch bei der Herstellung von symbolischen Relationen gibt es keine fixen Regeln der Identität, daher auch keine logisch notwendige Äquivalenz zwischen zwei verschiedenen Entitäten. Der Mensch, der fähig ist, sich Übertragungen auszudenken, ist schöpferisch im wortwörtlichen Sinn. Er erfindet Ähnlichkeiten, die er fokussiert und verstärkt; in der Folge schafft er neue Bedeutungen.

Mit dieser Deutung, die in der Translationstheorie weit verbreitet ist, importiert man allerdings die Probleme des mentalistischen Paradigmas: die Trennung zwischen „Geist“ und „Welt“ beziehungsweise die Verdoppelung der Welt, die dann aus einer (nicht völlig trans­parenten) inneren und einer (nicht gänzlich fassbaren) äußeren Welt besteht. Gegen diesen Dualismus wandte sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ein Ausweg ist möglich, wenn der Translationsakt konsequent als soziale Praxis gedacht wird. Dabei wird die mentale Dimension nicht negiert, aber diese wird als sozial konstituiert aufgefasst. Translationsakte werden demnach erst durch ihre gesellschaftliche Rahmung überhaupt möglich. (Ein Kaspar Hauser, das heißt jemand, der ohne jeglichen Kontakt zu einer menschlichen Gemeinschaft aufwuchs, ist also nicht translationsfähig.)

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Begreift man Translationsakte als soziale Praktiken, dann muss an dieser Stelle der zugrundeliegende Praxisbegriffs erläutert werden:

Erstens werden Praktiken individuell vollzogen, aber sie weisen keinen genuin individu­ellen Charakter auf. Zu insistieren, dass Praktiken kollektiv geteilt sind, bedeutet, sie als soziales, gemeinschaftliches Phänomen zu definieren.

Zweitens, um Praktiken verstehen zu können, müssen wir sie in ihrem sozialen Kontext betrachten und sie mit anderen sozialen Phänomenen wie Bedeutung, Bewertung, Wissen, Können, Macht, Sprache, Institutionen in Beziehung setzen.

Drittens ist die Quelle von Praktiken folglich nicht das Subjekt und sein Geist, denn der Geist, das Mentale, formt sich in einem sozialen praktischen Umfeld. Praktiken entstehen auf der Basis von Gemeinschaften.

Viertens, diese Priorisierung der Praktiken vor dem Geist und seine Anbindung an einen Begriff von Gemeinschaft, der sich den Merkmalen einer Institution nähert, verändert auch den Wissensbegriff. Wissen als Gegenstand und Produkt von Translationsakten ist nicht mehr ein Erzeugnis des Geistes (eines individuellen Geistes, eines kollektiven Weltgeistes, einer symbolischen Ordnung oder eines anonymen Es).

Und fünftens, wenn wir davon ausgehen, dass Bedeutung kein bloß mentales oder rein linguistisches Phänomen ist, sondern emergentes Produkt, das interaktiv in und durch den Translationsprozess entsteht, dann wird Bedeutung als etwas Beobachtbares und somit als etwas Öffentliches aufgefasst – wie dies auch von Clifford Geertz unter Bezugnahme auf Ludwig Wittgenstein festgehalten wurde.

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Wie artikuliere ich ein Gefühl, wie formuliere ich einen Gedanken, wie stelle ich eine Erfahrung als bedeutungsvoll dar? Translation muss, da sie eine soziale Praxis ist, erlernt werden. Solche Lernprozesse setzen die Partizipation in einer Praxisgemeinschaft voraus. Partizipation meint die Ausbildung einer Identität im Kontext konkreter Sprachspiele, Traditionen, Tätigkeitsfelder und Lebensformen. Die „Abrichtung“ (Ludwig Wittgenstein) durch Einübung und Wiederholung führt nicht automatisch zur vollständigen sozialen Anpassung und Homogenisierung. Das soziale Leben (also Bedeutungen, Handlungen, Wechselwirkungen, Interaktionen, Aushandlungsprozesse, ...) ist komplex, mehrdeutig und fragmentiert; Differenzen, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten lassen sich nicht gänzlich ausradieren.

Wenn Wissen und Verstehen relativ offenen Produktionsmodi unterliegen, dann ist es möglich, dass unterschiedliche Personen eine je andere Version eines Sachverhalts, also eine andere Übersetzung oder Übertragung generieren. In Fällen, bei denen die Produktionsmodi stärker kanonisiert, kontrolliert und sanktioniert werden, sind konsequenterweise die entsprechenden Handlungsschritte stärker reguliert. Die Einbettung von Translationsakten in konkrete soziale Situationen und in Praxisgemeinschaften bedeutet, dass sich Translationsakte nicht völlig beliebig entfalten. Translationsakte sind regelgeleitet, aber diese Regeln sind situativ variabel und lassen Hintertüren offen. Dies liegt in ihrer Natur: Auch die präzisesten Beschreibungen, wie man etwas tun soll (kochen, unterrichten, musizieren, übersetzen) können das Handeln niemals vollständig anleiten. Das liegt nicht bloß in der Abwesenheit einer Metasprache beziehungsweise einer Metaebene, die Translationsakte logisch zwingend steuert, sondern auch an dem impliziten, diskreten, oft unspezifizierbaren Charakter des Tuns.

Regeln ermöglichen auch Regelbrüche. Jedes Praxisfeld generiert normative Vorstel­lungen über „sinnvolle“, „richtige“, „wertvolle“ Handlungen und Leistungen. Folglich entwickeln auch die Personen, die in einem solchen Praxisfeld kompetent partizipieren auf der Basis ihrer Gewissheiten und Überzeugungen, die sich im Zuge von Enkulturationsprozessen und Gewohnheiten verfestigen, ein evaluatives Gespür von ihren eigenen Handlungen. Dispute – ein Phänomen, das man innerhalb aller Berufskollektive findet – sind dennoch nicht auszuschließen, da sie jedem Verstehens- und Translationsakt inhärent sind.

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Wenn wir Translation in erster Linie als soziale Praxis (und nicht primär als Verschiebungen und Brüche in der Signifikationskette) begreifen, dann avanciert das Lernen, so scheint mir, zum zentralen Thema der Translationstheorie. Lernen ist ein unhintergehbares Phänomen des Daseins; ohne die Lernfähigkeit als anthropologisches Merkmal würde es keine Kultur (d.i. Tradierung und Weitergabe von erworbenem Wissen) und in der Folge auch keine Translation im kulturwissenschaftlichen Sinn geben.

Lernen ist größtenteils reproduktiv, was aber nicht bedeutet, dass die Lernenden die Lerninhalte eins zu eins übernehmen. AnfängerInnen orientieren sich zwar an Vorbildern, sammeln aber zugleich im Laufe ihres Lernprozesses eigenständige Erfahrungen und beginnen, das Erlernte situativ anzuwenden. Die komplexen und stets mikrostrukturell variie­renden Anwendungssituationen machen es vollkommen unmöglich, dass das Erlernte durch eine einfache Ableitungslogik Anwendung finden kann. Erlerntes in einer Handlungssituation zu nützen setzt subtile Analogiebildungen und praxisangemessene Situationsinterpretationen voraus. Die in jeder Handlungssituation neu erworbenen Erfahrungen spielen eine mittelbar präskriptive Rolle, weil sie ähnlich wie Präzedenzfälle und Musterbeispiele Maßstäbe für künftige Handlungen setzen. Sie kreieren einen praktischen Sinn, der den Handelnden nicht notwendigerweise bewusst ist. Für die Translationstheorie zeigt der Rekurs auf Lernprozesse, dass die Grenzen zwischen Translation und Aneignung fließend sind.

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Denken wir wieder an die oben erwähnten lebensnahen Situationen: Ich artikuliere ein Gefühl, damit mein Gegenüber weiß, was eine Situation für mich bedeutet. Oder, ich möchte meine Gedanken klar vermitteln und versuche daher mich im Sprachstil meines Gegenübers auszudrücken. Translationsakte setzen Verstehen voraus. Mit Verstehen ist nicht ein umfassendes oder richtiges Verstehen gemeint. Verstehen hat zwei Bedeutungen: Erstens, Sinngeben und Sinnerfassen, also Wissensgenerierung und zweitens, „sich auf etwas verstehen“, was auf eine Fähigkeit, ein Können verweist. Es ist hier hervorzuheben, dass Wissen und Können eng aneinander angelehnt sind. Translation wird nicht zuerst erdacht und dann vollzogen, sondern Denken und Handeln bilden eine enge Verbindung.

Nehmen wir als Beispiel die Übersetzung einer sprachlichen Anleitung ins praktische Handeln – ein Kochrezept. Ausdrücke wie „wenig Öl“, „mittlere Hitze“, „langsam ver­rühren“, „abschmecken“ sind verständlich für jene, die über ein breites Erfahrungsrepertoire verfügen und einen praktischen Sinn für das Kochen entwickelt haben. Für NovizInnen hingegen kann auch die beste Beschreibung nicht die fundamentale Unsicherheit und mangelndes Geschick eliminieren. Das Problem der Übertragung von Handlungswissen offenbart sich hier als ein Problem der Beziehung zwischen Textverstehen und handelndem Körper, sinnlichem Urteilsvermögen und praktischem Geschick: Gute KochlehrerInnen können mir gewiss viele nützliche Hinweise geben, aber nicht ihr Praxiswissen („personal knowledge“, Michael Polanyi) direkt übertragen; ich muss üben und mir das Wissen erst aneignen. Das heißt, das praktische Verstehen als Übertragung eines vorhandenen Wissens (die Kunst des Kochens) entwickelt sich implizit und ist weitgehend intransitiv.

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 Ein Schriftsteller, der regelmäßig Schreibworkshops leitet, will in einer Unterrichtsstunde den KursteilnehmerInnen Aspekte vermitteln, die er nicht einfach theoretisch darlegen kann – zum Beispiel den „Ton“ eines Textes (eine leise Ironie, eine verdeckte Wertung, …). Er liest folglich eine ausgewählte Textpassage mehrmals laut vor. Er versucht dabei mit seiner Stimme diesen speziellen Ton zu vermitteln, indem er den ZuhörerInnen zwei, drei Lesevarianten anbietet. Solche demonstrativen Mittel sind unverzichtbar; theoretische und begriffliche Erklärungen reichen offensichtlich nicht aus.

In jeder Kunstform gibt es das jeweils Eigentümliche, Singuläre, das nicht einfach in ein anderes Medium übertragen werden kann. Auch beim höchsten Übersetzungs- und Übertragungskönnen bleibt ein Residuum, das beim Translationsprozess verloren geht. Das Verstehen des Nicht-Repräsentierbaren und Unsagbaren, das Erfassen des Nicht-Begrifflichen im Handeln (des Takts, des Geschicks), der Umgang mit dem Nicht-Übersetzbaren – das alles hatte vielleicht Wittgenstein im Kopf, als er den „Tractatus“ mit der Aufforderung zu schweigen beendete. Dies begründete er nicht ethisch, sondern epistemologisch.

Die Erörterung der Grenzen des Translationsbegriffs, wo das Stehen-Lassen beziehungs­weise der Raum der Andersheit legitim sind, stellt eine der größten Herausforderungen sowohl für die Weiterentwicklung der kulturwissenschaftlichen Translationstheorie als auch für die Translationsanalyse dar.

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 Am Ende dieses Essays ist mein Anliegen hoffentlich klar geworden, zu zeigen, dass Translation ein offener Begriff ist, der vieles meint: Übertragung in einen anderen Kontext oder in ein anderes Medium, Umsetzung, Paraphrase, Transformation, Erfindung aber manchmal auch Betrug und Erschleichen. „Betrug“ und „Erschleichen“ verweist auf die ethische Dimension unserer Beziehung zur Welt (zu Objekten wie auch zu den Mitmenschen) und somit auf die ethische Dimension aller Translationsakte, die diese Welt-Beziehung ausmachen. Bei aller unabdingbaren Offenheit und Vieldeutigkeit im Laufe von Translations­prozessen sind Präzision und Besonnenheit angebracht. Das ist eine Hypothek nicht bloß für die Theorie, sondern auch für die Translationspraxis.

(Veröffentlicht in: Werner Hasitschka (Hg.): Performing Translation, Wien: Löcker Verlag, 2014, 27-36)


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