Nationalrassismus
Brüder im Ungeist
Bei allen gegenseitigen Anschuldigungen und sogar einem neuerlich beginnenden atomaren Wettrüsten zwischen den beiden Supermächten USA und China sollte man nicht übersehen, dass beide Staaten neben dem heftigen Fieber des Nationalismus auch von beharrlichem Rassismus geschüttelt werden. Was den Nationalismus betrifft, ist er überall auf der Welt immer derselbe: Das Narrativ einer homogenen Herkunfts- und Kulturgemeinschaft wird mit großem Eifer gestärkt, um daraufhin als Grundlage einer Feindseligkeit gegenüber allem übrigen 'Ausland' und vor allem gegenüber den angeblichen Nicht-Zugehörigen zur jeweils 'eigenen' Nation im Innern zu dienen. Das Strickmuster des Nationalismus ist so einfach wie - leider häufig - wirksam. Über seine Entstehung hat bereits Benedict Anderson in seinem klassischen Text "Die Erfindung der Nation" (Campus Verlag, 1983) Auskunft gegeben. Der Rassismus wiederum steuert zur Illusion des Nationalismus die biologischen Letztbegründungen bei. Beider Mischung ist sehr unangenehm und gefährlich.
Der Rassismus ist psychologisch ein naher Verwandter des Nationalismus und lässt sich ebenfalls sehr wirksam zur aggressiven Mobilisierung von Menschen einsetzen. Was China und die USA betrifft, hat der in beiden Ländern starke Rassismus allerdings vollkommen verschiedene Wurzeln.
USA: Die beharrlich verleugnete Kehrseite des Gründungsmythos
In den USA gehört der Rassismus infolge seiner ostentativen Leugnung bereits zu den Gründungslügen dieses Staates. In der Declaration of Independence, die von Thomas Jefferson im Jahre 1776 verfasst und veröffentlich wurde, heißt es bekanntlich: "All men are created equal." Er bezog sich damit auf die in Frankreich bereits herrschende Auffassung der französischen Aufklärer, dass kein Mensch aufgrund seiner Geburt das Recht zur Herrschaft über andere Menschen hat. Von dieser heeren Proklamation blieb in der noch jungen US-amerikanischen Wirklichkeit allerdings nicht viel übrig: Die bisher im Lande schon seit Jahrtausenden ansässigen Einwohner, genannt 'Indianer', wurden rücksichtslos verdrängt und in großem Umfange sogar vernichtet. Die entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika bauten derweil in ihren südlichen Teilstaaten riesige Landwirtschaftsbetriebe mit Sklavenarbeitern auf, was zu dieser Zeit zumindest in Europa westlich von Russland bereits seit langem nicht mehr erlaubt war und auch moralisch keinerlei Zustimmung fand. Selbst besagter Thomas Jefferson unterhielt bekanntlich eine sklavenbewirtschaftete Farm, hatte mit seiner schwarzen Geliebten Sally Hemings sogar Kinder und lebte mit ihr über Jahrzehnte im offenen Konkubinat. Nach dem Bürgerkrieg von 1861-1865, der unter anderem mit dem formalen Verbot der Sklaverei endete, ging die Diskriminierung der Schwarzen, die ursprünglich als regelrechte Handelsware in Afrika eingefangen und in die USA verkauft worden waren, nahezu unvermindert weiter. Schwarze hatten faktisch kaum oder nur sehr erschwerten Zugang zu Bildung und kaum Kontakt mit den herrschenden weißen Kreisen, so dass sie systematisch sozial weiter heruntergedrückt wurden.
Es bedurfte eines Fast-Bürgerkrieges in den 1960er-Jahren, um die US-amerikanische Gesellschaft überhaupt darauf aufmerksam zu machen, dass sie in einem eklatanten kollektiven Zustand unterträglicher Doppelmoral und des systematisch schweren Unrechts lebten. Noch zu jener Zeit kam es immer wieder sogar zu Lynchmorden, die schließlich auch die so genannte Bürgerrechtsbewegung (eine Bewegung zur Bewusstmachung und Linderung der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung) befeuerte. Ihr bekanntestes Opfer, Martin Luther King, bewies durch seinen gewaltsamen Tod, dass die Beseitigung der US-amerikanischen Gründungslüge noch lange nicht vollendet war, sondern diese munter weiter lebte. Die neuesten Unruhen nach dem Tod von George Floyd zeigen, dass die entsprechenden Spannungen offenbar um nichts nachgelassen haben. Es bedarf nur eines entsprechend autoritär-rassistischen Präsidenten, um sie in alter Stärke wieder aufzuleben zu lassen.
Es bleibt bis heute ein Rätsel, wie es sein kann, dass die USA eines der reichsten und technisch entwickeltsten Länder der Welt sind, zugleich obsessiv religiös und trotz all des rationalistischen Cresdos ihrer Gründer beispiellos gewaltgläubig und hartnäckig rassistisch.
China: Alte Kultur, frische Aggression
Ganz anders und letztlich doch so ähnlich in China. Dieser Kulturraum ist schon seit mehr als zweitausendzweihundert Jahren zum Staat China vereinigt, der damit die mit Abstand älteste ununterbrochen bestehende kollektive Institution der menschlichen Welt ist. Schon mehrere Jahrhunderte vor der Vereinigung der vorangehenden Fürstentümer zum späteren China entwickelte sich in diesem Kulturraum aufgrund relativ dichter Besiedlung und günstiger Umweltbedingungen eine sehr aktive Intellektualkultur, die sich bereits zu Zeiten des Konfuzius (551-478 v.u.Z.) von der Vorstellung einer personal-transzendenten Gottesautorität mit moralischem Letztbegründungsanspruch verabschiedet hatte. Darin dürfte einer der größten Unterschiede zu der etwas zur gleichen Zeit erblühenden monotheistischen Religionsbewegung im israelisch-jüdischen Kulturraum liegen, die schließlich sowohl für das europäische Christentum als auch für den weltweit sich verbreitenden Islam zum Vorbild wurde.
An die Stelle eines personal-transzendenten Gottes stellten Philosophen des chinesischen Kulturraums die Vorstellung eines absolut geordneten Kosmos, dem sich die (chinesische) Menschheit sowohl individuell als auch in ihrer sozialen Ordnung widerspruchslos zu fügen habe. Gerade aber wegen dieses erstaunlich säkularen Weltmodells, das in einem großen Schriftkorpus bis ins Detail über die Jahrtausende immer weiter verfeinert wurde, entwickelte sich in China auch ein anderes, weniger angenehmes und sogar ziemlich giftiges Pflänzchen: die Arroganz gegenüber allem, was nicht chinesisch war. Diese Arroganz gründete zunächst auf einer tatsächlich überragenden kulturellen Entwicklung. Ausgehend vom chinesischen Kernland breitete sich diese Kultur schon im ersten nachchristlichen Jahrtausend über alle angrenzenden Regionen und Ländern Ostasiens aus. Korea, Japan, Vietnam und alle anderen Anrainer entwickelten ihre eigenen Kulturen allesamt unter massivem chinesischem Einfluss. Die Dominanz chinesischer Lebensweise und sozialer Organisation war so stark, dass man alle Bewohner der darüber hinausgehenden Teile der Welt gar nicht mehr für 'richtige' Menschen hielt. China als Kaiserreich war so selbstbewusst, dass es selbst die kolonialen britischen Emissäre vor den berüchtigten Opiumkriegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abwies, weil man am Hofe nicht sah, was Menschen außerhalb Chinas überhaupt zu bieten haben könnten, was es in China nicht ohnehin schon besser gebe oder ansonsten überflüssig sei. Was allerdings das uralte chinesische Weltbild einer kosmisch gerechtfertigen Sozialordnung angeht, durchlebte China nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Sieg Maos in dem Bürgerkrieg im Jahre 1949 und der anschließenden mörderischen Politik des 'Großen Vorsitzenden' eine atemberaubend gewaltsame kulturelle Umkrempelung sämtlicher Lebensbereiche, die in der Menschheitsgeschichte keine Parallele hat. Es kann einem deshalb nur Bewunderung abringen, dass China Inzwischen faktisch die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist, auch wenn die USA dies noch nicht wahrhaben wollen.
Mit diesem Aufstieg Chinas zur Weltmacht lebte allerdings auch ihre alte Vorstellung von der absoluten Besonderheit aller Chinesen wieder auf, wobei jedoch nicht etwa die Menschen mit chinesischer Staatsbürgerschaft gemeint sind, sondern die so genannten Han-Chinesen, die ca. 92% der heutigen chinesischen Bevölkerung und mit 1,3 Milliarden Mitgliedern sogar 18% der gesamten Weltbevölkerung ausmachen. Han-Chinese zu sein bedeutet in der Eigenvorstellung dieser Menschen, einer biologisch definierten Herkunftsgemeinschaft anzugehören. Weil diese Vorstellung aber auch die Vorstellung vom Chinesisch-sein überhaupt dominiert, führt dies dazu, dass man praktisch nicht Chinese werden kann, wenn man es nicht schon von Geburt an ist. Deshalb ist China auch mit Abstand das Land mit den geringsten Einbürgerungszahlen. Man will "sauber" bleiben. Ferner folgt aus dieser im heutigen Kontext leider zum blanken Rassismus vergorenen Vorstellung, dass alle Menschen, die a) entweder physiologisch deutlich von den Chinesen unterscheidbar sind, d.h. vor allem Afrikaner, und b) solche, die starken religiösen Weltbildern verhaftet sind, von der chinesischen Bevölkerung und zunehmend auch von den staatlichen chinesischen Institutionen öffentlich verachtet und unterdrückt zu werden.
Die sino-amerikanische Irrealität
USA und China: Zwei Länder also mit den denkbar unterschiedlichsten Entwicklungshintergründen, und dennoch - leider - einander so ähnlich in ihrer hochfahrenden Arroganz. Der Slogan "America first" des amtierenden Präsidenten Trump wird, wenn auch nicht mit diesen Worten, so doch inhaltlich genauso von der chinesischen Herrschaftselite für ihr eigenes Land vertreten. Diese Auffassung ist auf beiden Seiten aber nur oberflächlich ein Ausdruck wirtschaftlich-militärischer Hegemonialansprüche. Sie geht viel tiefer und wird letztlich biologisch begründet. Bei den US-Amerikanern entsprechender ideologischer Provenienz ist es die tief sitzende Überzeugung, dass nur der "weiße Mann" berechtigt und sogar berufen sei, die Welt zu dominieren. Bei den Chinesen ist es, und sogar noch viel weiter verbreitet als in den USA, die ebenso feste Überzeugung, dass alles Nicht-Chinesische letztlich minderwertig sei und der uralten chinesischen Kultur nichts entgegenzusetzen habe. In ein und derselben Logik werden Chinesen in den USA aus rasstistischen Gründen ähnlich (wenn auch vielleicht nicht so stark) diskriminiert wie die Schwarzen, genauso wie pauschal-umgekehrt alle Nicht-Chinesen in China. Afrikanische Gastarbeiter in China brauchen selbst bei schweren Missbräuchen mit keinerlei Unterstützung durch die Behörden zu rechnen, und die islamischen Uiguren, die kollektiv sowohl mit religiöser als auch biologischer Begründung als Nicht-Han-Chinesen verachtet werden, leiden zu Hunderttausenden unter vollkommener Entrechtung; sie werden nach wie vor ohne jeglichen Nachweis irgendeines Fehlverhalten präventiv in riesige Arbeitslager zwecks monatelanger Gehirnwäsche eingesperrt. Über die entfesselte rasstistische Gewalt der US-Polizeikräfte brauchen wir nach den Ereignissen der letzten Wochen kein Wort mehr zu verlieren.
Wie bringt man die Besessenen wieder zur Vernunft?
Nun denn: Eine Vereinigung der Rassisten aller Länder, analog zum Marx-Engels'schen Aufruf zur Vereinigung aller Proletarier der Welt, ist gleichwohl nicht zu befürchten. Dazu verachten sie sich gegenseitig viel zu stark. Wohl aber ist das Aggressionspotenzial solcher Arroganz enorm. Da China und die USA über einen erheblichen Teil der gesamten militärischen Machtmittel der Welt verfügen und diese gerade mit aller Kraft auch noch aufstocken, ist hier das Überkochen einer durchweg irrationalen Herrschsucht zu befürchten. Beide Länder haben in diesem Konflikt, der bereits in vollem Gange ist und nur noch nicht militärisch ausgetragen wird, nichts zu gewinnen. Sie riskieren nur große Rückschläge ihrer eigenen Entwicklung. Ein militärischer Konflikt würden solche Entwicklungshindernisse in denkbar größte und irreversible gegenseitige Zerstörung verwandeln. Die übrige Welt kann nur hoffen, dass die vernünftigen Kräfte in den USA und China am Ende doch die Oberhand behalten, und sei es nur aus der dunklen Ahnung, dass eine militärische Auseinandersetung sicher ihre beideseitig katastrophale Niederlage bedeuten würde. Um der Vernunft aber wieder zu ihrer verdienten Geltung zu helfen, ist es die Aufgabe aller nicht verblendeten Beteiligten, unablässig an der Entlarvung der biologisch begründeten, und das heißt: rasstistischen Arroganz beider Supermächte zu arbeiten. Erst wenn diese schwere psychosoziale Krankheit besiegt ist, werden sich auch ihre übrigen, eher weltlichen Hegemonialansprüche in verträgliche Bahnen leiten lassen. (ws)