Religion: Vom kollektiven Identitätsstifter zur individuellen Ersatzdroge

Orientierungslos zwischen Transzendenz und Ego
Orientierungslos zwischen Transzendenz und Ego

Die Wiedergeburt der Götter

Wer sich heute mit der Bedeutung von Religion für eine Gesellschaft auseinandersetzt, steht vor einem grundsätzlich anderen Hintergrund global-gesellschaftlicher Verhältnisse als noch die Menschen vor 40 Jahren. Säkularisierung gilt nicht mehr als Allheilmittel gegen religiösen Extremismus. Vielmehr lautet der beharrliche Vorwurf vieler nicht-europäischer Kulturen gegen ein säkularisiertes Europa, vor allem seitens des Islam und sogar seitens der religiösen Schichten der USA, mit erstarkender Bestimmtheit: Ohne Religion ginge "es" nicht. Gemeint ist: Ohne Religion lande eine jede Gesellschaft im rechtlosen, kriminellen Chaos. Gott im Himmel und seine frommen Jünger auf Erden seien unverzichtbar.

Ich habe hierzu drei wichtige Bücher gelesen, eines erst kürzlich erschienen und extrem voluminös, zwei weitere schon ältere, dafür bereits anerkannte Meilensteine zum selben Thema. Das erste ist "Ein säkulares Zeitalter" von Charles Taylor (Suhrkamp 2012, 1.297 Seiten), das zweite "Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts" von Benedict Anderson (Campus Bibliothek 1996, 306 Seiten) und das dritte "Das Ritual. Struktur und Antistruktur" von Victor Turner (Campus Verlag 1989, 213 Seiten). Charles Taylor, emeritierter Philosoph an der McGill University in Montreal, nimmt in seinem jüngsten Werk stark auf die beiden anderen Autoren Bezug.

Die Stimmen der Philosophen, Soziologen und Ethnologen

Taylor, der sozialphilosophisch zu den zentralen Vertretern des Kommunitarismus gehört, zeigt sehr sensibel und facettenreich, dass die europäische Säkularisierungsbewegung seit dem Mittelalter bis heute aus vielen heterogenen, in ihrem Zusammenspiel historisch einmaligen Umständen und Bedingungen hervorging. Dies führte nicht nur von einem magisch-kosmologischen Bewusstsein des Mittelalters zu einer entzauberten, naturwissenschaftlich-technischen Weltauffassung heute, sondern krempelte das Beziehungsgefüge der Menschen in ihrem Kern um: Sahen sich die Menschen früher als Teil einer "vertikalen", d.h. von Gott hierarchisch geordneten Welt, der ein transzendenter, für Menschen nicht durchschaubarer Kosmos zugrunde lag, so sehen sich die Menschen heute als Elemente einer horizontalen, "flachen" Welt, in der die Nützlichkeitsbeziehung sehr vieler einzelner Menschen zueinander ohne jegliche ordnende Transzendenz der Kern des Bildes von Gesellschaft ist.

Benedict Anderson zeigt mit enormer Wissensbreite nicht nur betreffend die europäische kulturelle Entwicklung, sondern auch jene in Asien, dass kollektive religiöse Identität nicht einfach ersatzlos gestrichen werden kann, indem man sich säkularisiert. Vielmehr ist die Verfallsform religiöser Identität überall auf der Welt der Nationalismus. Religion und Nationalismus haben einen gemeinsamen Wesenskern: Sie stiften eine symbolische kollektive Identität der Zeichen und überwinden damit die physische Hürde, dass sich die Mitglieder weder der großen Religionsgemeinschaften, noch der größeren Nationen jemals in relevantem Umfange kennenlernen können. Die identitätsstiftende Kraft gemeinsamer, magischer Zeichensysteme leistet damit das förmlich Unmögliche: Auf katholischen Kirchentagen und bei der Umrundung der Kabah in Mekka treffen Menschen im Bewusstsein eines "Wir" aufeinander, die einander nicht nur vollkommen unbekannt sind, sondern sogar aus extrem unterschiedlichen Lebensumständen und sogar Kulturen kommen.

Victor Turner schließlich leistete schon vor den beiden anderen Autoren Grundlagenarbeit, indem er anhand von Feldstudien bei Kleinstgesellschaften in Zentralafrika zeigte, dass jede Form von Gesellschaft Strukturen voraussetzt, die das Individuum häufig lebenslang an einen Platz stellen, mit dem es mit gutem Grund nicht vollständig einverstanden und ständig sein kann. Dieser gesellschaftlichen Struktur stellt Turner das Bedürfnis wohl aller Gesellschaften - auch unserer modernen - gegenüber, eine ursprünglichere Form von Gemeinschaft geltend zu machen, die bar jeder Differenzierung die Gleichheit der Menschen und ihrer Bedürfnisse betont. Er nennt diese idealtypische Gegenform "Communitas". Die Communitas ist aber nur rituell und daher für relativ kurze Zeiten realisierbar. Sie wird von allen Gesellschaft in Form regelmäßiger Feste und Riten zumindest symbolisch inszeniert, um damit die Zwänge der tatsächlichen gesellschaftlichen Struktur wieder erträglich zu machen.

Widersprüchlichkeit als Kern von sozialer Ordnung

Was folgt aus solchen sehr grundlegenden Beobachtungen für den heutigen Kampf um die Rolle "der" Religion in "der" Gesellschaft? Zunächst einmal bestätigen alle drei nur die Kontingenz historischer Verläufe. Was in Europa in den letzten 1.000 Jahren geschah, muss keineswegs auch in anderen Teilen der Welt geschehen. Es wird selbst dann nicht sicher eintreten, wenn man als säkular gestimmter Mensch über die wirtschaftliche oder gar militärische Macht verfügt, anderen Kulturen seine Sicht der Welt aufzudrängen. In diesen Dingen lassen sich die Menschen kaum zwingen. Denn Gesellschaften sind enorm träge, selbst-stabilisierende symbolische Gebilde, denen man mit Zwang in dieser Hinsicht kaum zu Leibe rücken kann.

Zudem sind die Dinge heute viel komplizierter und in vieler Hinsicht viel verdrehter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die US-amerikanische Gesellschaft beispielsweise, ehemals ein Leuchtturm der individuellen Freiheit und auch heute noch gerne als Inkarnation eines nüchternen, entzauberten Weltbildes gesehen, ist tatsächlich so viel religiöser und auch extremer in vielen ihrer gesellschaftlichen Paradigmen als ihre europäische Stammkultur (man denke nur an den american exceptionalism!), dass man sich manchmal fragt, mit welchem Recht diese Gesellschaft noch anderen Gesellschaften und Kulturen moralische Vorschriften machen will, die sich schlicht als Konkurrenten auf gleicher Ebene betrachten: Die transzendente Rechthaberei will einfach kein Ende nehmen.

Charles Taylor ist überzeugter Katholik, allerdings ein sehr kritischer, was das Verhalten der katholischen Kirche in der Vergangenheit betrifft. Er ist in gewisser Weise ratlos, wie man die von ihm beschriebene Transformation der europäischen Gesellschaften seit dem Mittelaltel nehmen soll. Einerseits begrüßt er sie, andererseits betrauert er den Verlust an Sinn und sozialer Fülle. Die Beziehungen der Menschen - darin ist er sich mit der Frankfurter Schule wohl einig - verarmen im Zuge der Säkularisierung zur gegenseitigen Instrumentalisierung auf rein materieller / hedonistischer Nützlichkeitsbasis. Anderson wiederum diagnostiziert messerschaf den Nationalismus als rundum zusammengeschusterte Illusion, deren Anhänger auch noch aggressiv das zu verteidigen versuchen, was diese Illusion gar nicht zu erfüllen vermag, nämlich kollektive Identität. Und Turner zeigt uns, dass das Grundproblem menschlichen Zusammenlebens am Ende ist, dass Gesellschaft in mehr oder weniger großer Intensität auf der Vergewaltigung des Individuums beruht, gemildert durch Rituale einer ersehnten Freiheit, die doch an den wirklichen Verhältnissen niemals etwas zu ändern vermögen.

... und keine Lösung in Sicht

Das klingt mehr als problematisch: Es klingt fatal. Die Widersprüche noch zwischen den ureigensten Interessen der Menschen scheinen unauflöslich. Wir alle wollen Sicherheit vor chaotischer Gewalt, einen gewissen Wohlstand und die Möglichkeit zur Entfaltung der je eigenen Fähigkeiten. Dies verträgt sich allerdings nicht mit Hierarchielosigkeit, mühelosem Erwerb und dem Vorrang der tief empfundenen Orientierung vor der rationalen Handlungsentscheidung. Max Weber ist nicht nur inhaltlich, sondern (nach Rousseaus Empörungsrhetorik) bereits stilistisch der erste gewesen, der mit kalter Ironie dieses Dilemma als schlichtes Faktum beschrieb. Nach all den europäischen Wirren der Reformation, der Aufklärung, der amerikanischen und französischen Revolution, der industriellen Revolution, zweier niederschmetternder Weltkriege, der sexuellen und künstlerischen Befreiung mit anschließender Explosion weltumspannender Instant-Kommunikation (aka "digitales Zeitalter") bleibt doch nur die Feststellung, dass die Menschheit wie eh und je nach einer Form des Sozialen sucht, wo die unvereinbar erscheinenden Widersprüche zumindest so gezähmt werden, dass nicht in regelmäßigen Abständen alles wieder in Schutt und Asche liegt.

Ecce homo! rief schon Nietzsche, der ebenfalls ein scharfes Gespür für diese Verhältnisse hatte. Eines ist jedenfalls sicher: Gott ist noch lange nicht tot. Und sollten ihn die Europäer auch umgebracht haben, so heißt das noch lange nicht, dass er als Reimport aus anderen Teilen der Welt, unterstützt von den hier verbliebenen Christen, nicht schon wenige Jahrzehnte später wieder fröhliche Urständ selbst in den Kernlanden der Gottesabschaffer feiert. Bisher gibt es leider niemanden, der hier glaubhaft machen könnte, den Sextanten metaphysischer Orientierung mitten auf hoher, stürmischer See gefunden zu haben. (ws)

(Kommentare jederzeit erwünscht!)

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