'Soziale Identität': Aufstieg einer Chimäre
Zum Unterscheid von Selbst- und Fremdzuschreibung sozialer Identität
Seit einigen Jahren, parallel zum Aufstieg des weltweit aktuellen Populismus, ist nicht nur in den sog. westlichen Ländern[1] wieder verstärkt davon die Rede, dass der soziale Mensch einer ‚Identität‘ bedürfe. Ohne diese sei nicht nur sie/er psychisch angeblich orientierungslos, sondern auch der Zusammenhalt eines jeden sozialen Kollektivs akut gefährdet. Im Gegensatz zum modernen Nationalismus, der bereits im 19. Jahrhundert entstand, wenn auch nicht unter dem Titel ‚soziale Identität', sondern im Namen nationaler Einheit[2], ist die heutige Berufung auf die angebliche Notwendigkeit sozialer Identität zwar immer noch stark mit der Vorstellung einer homogenen Nation verbunden, dies aber nicht mehr ausschließlich. Stattdessen und in gewisser Weise noch ungreifbarer ist heute, wenn nicht gleich ganz platt von ethnischer Herkunftsgemeinschaft, stattdessen z.B. von ‚Wertegemeinschaft‘ und Ähnlichem die Rede. Wie historisch jung all solche Begrifflichkeit ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass bei zwei der wichtigsten Gründerfiguren der modernen Soziologie, Max Weber und Émile Durkheim, von ‚sozialer Identität‘ noch keine Rede ist. Das ist nicht erstaunlich, insofern der Begriff ‚Identität‘ ursprünglich nur im logischen Aussagenzusammenhang gebraucht wurde und dort auch eine deutlich längere Geschichte hat als in der politischen Auseinandersetzung.[3]
Gleichwohl gilt ‚soziale Identität‘ heute als ein soziologischer Grundbegriff. Er besagt in etwa Folgendes: „Identität bezeichnet ein im Verlauf der Sozialisation gebildetes Selbstverständnis einer Person. Identität ist ein soziales Gebilde das sich über Kindheit und Pubertät bis in das Erwachsenenalter durch das Hineinwachsen in die soziokulturelle Umwelt und die selbst und Fremdzuschreibung von sozialen Rollen bildet.“[4] Für George Herbert Mead, eine weitere Gründerfigur der modernen Soziologie, ist soziale oder personale Identität schlicht „die Fähigkeit des denkenden Organismus, sich selbst Objekt zu sein“[5], wobei auch Mead den Begriff der Identität selbst gar nicht gebraucht. Henri Tajfel und John C. Turner führten ihn schließlich im Jahre 1986 explizit als soziologisches Konzept ein.[6]
Mit jener Vorstellung gesellschaftlicher Identität, von der in heutigen politischen Auseinandersetzungen die Rede ist, hat all dies freilich so gut wie nichts zu tun. Wir müssen hier zunächst unterscheiden zwischen der Selbstzuschreibung und der Fremdzuschreibung von Identität. Wie Amartya Sen in mehreren seiner Bücher, z.B. "Die Identitätsfalle"[6a], gezeigt hat, lebt der soziale Mensch immer gleichzeitig in sehr vielen und auch wechselnden Identitäten. Die Zuschreibung lediglich einer einzigen „Haupt“-Identität sei immer eine Art Gewaltanwendung per Zuschreibung von außen, meist um die entsprechend 'markierten' Menschen zu diskriminieren. Damit hat Sen zwar Recht; leider trifft sein Argument aber nicht den dynamischen Kern der weltweiten Identitätsdebatte. Er widerlegt damit nämlich nicht all jene Identitätsfanatiker, die soziale Identität gar nicht als gewaltsame Zuschreibung von außen sehen, sondern als existenzielles Grundbedürfnis eines jeden sozialen Menschen selbst. Auf diese ganz andere Perspektive geht Sen leider nicht ein, und das ist ein großer Mangel seiner Perspektive. Im Zusammenhang mit dem heute meistens verwendeten Identitätsbegriff auf Seiten konservativer Diskursteilnehmer geht es dagegen immer um die Selbstzuschreibung von Identität, die soziologisch eine völlig andere Stoßrichtung und Wirkung hat. Wer Identität als subjektiv-soziales Grundbedürfnis bebehauptet, versucht damit in der Regel nur seine Wirkungsmacht zu erhöhen, indem sie bzw. er ihren politischen Willen mit einer angeblich unwiderleglichen subjektiven Letztbegründung versieht.
In den entsprechenden, häufig aggressiv auftretenden populistischen Kreisen wird der Identitätsbegriff deshalb als Kampfbegriff verwendet, der die Gefahr eines angeblich existenziellen Verlusts in düstersten Farben ausgemalen helfen soll. In dieser Form der politischen Instrumentalisierung von ‚sozialer Identität‘ wird als angebliches Bedürfnis ‚der Menschen‘ jenes nach größtmöglicher sozialer Homogenität und – vor allem – die Notwendigkeit ethnischer Herkunftsgemeinschaft als Voraussetzung allen sozialen Zusammenhalts beschworen. Wie gesagt: Von alldem war in der soziologischen Literatur noch nie die Rede und ist es bis auf den heutigen Tag nicht, auch wenn das Bedürfnis des Einzelnen nach Gruppenzugehörigkeit unbestritten ist, ebenso wie die Exklusionsdynamik von Gruppen zur Aufrechterhaltung ihrer jeweiligen kollektiven Selbstwahrnehmung. Bei der Behauptung der Bedürfnisse angeblich ‚aller‘ Menschen nach umfassender gesellschaftlicher und ethnischer Homogenität dagegen handelt es sich um eine Erfindung interessierter politischer Kräfte.
Nun ist die Erfindung werbewirksamer Neologismen in der politischen Arena keineswegs neu. Bereits die Selbstbezeichnung der russischen Oktober-Revolutionäre als Bolschewiki war im Kern eine Lüge. Denn ein Bolschewik ist (auf deutsch) ein Mehrheitler, also ein Mitglied einer dort ebenfalls nur angeblichen Mehrheit. Davon konnte bei den Bolschewiken im Zeitpunkt der Erfindung dieser Selbstbezeichnung tatsächlich keine Rede sein. Und die Nationalsozialisten bezeichneten ihren Massenmord an Behinderten und Kranken bekanntlich als ‚Euthanasie‘, was auf deutsch ‚Glückstod‘ heißt. Hier verschlägt einem die Frechheit und Brutalität der Lüge förmlich den Atem.
Unglücklich und analytisch ungründlich bei der politischen Instrumentalisierung des Begriffs der sozialen Identität ist nun, dass die liberalen Gegner der politischen Macht- und Geltungsansprüche, die sich hinter einer solchen am Ende aggressiven Sprache verbergen, offenbar über keinen Gegenbegriff verfügen, der die politische Absicht hinter der Rede von 'sozialer Identität' klar entlarvt. Im Gegenteil, sie gehen dieser Begrifflichkeit sogar vielfach auf den Leim, indem sie das angebliche Grundbedürfnis nach 'sozialer Identität' auch noch bestätigen. Ein aktuelles und besonders deutliches Beispiel hierfür liefert die österreichische Philosophin Isolde Charim.[7] Obwohl sie mit aller ihr verfügbaren intellektuellen Kraft gegen den neuen Populismus anzurennen versucht und dessen intellektuelle Unzulänglichkeit in vieler Hinsicht sehr scharfsinnig darlegt, fällt sie in jenem zentralen und wichtigsten Kampfbegriff auf dieser Bühne, nämlich dem der sozialen Identität, doch vollständig auf ihre Gegner herein. So behauptet sie beispielsweise, ‚wir alle‘ müssten „uns ständig unserer eigenen Identität versichern“[8] und versteigt sich gar zur der Behauptung: „Wir leben im identitären Prekariat.“[9] Im Sinne einer solchen Verwirrung spricht sie nachfolgend ständig vom Verlust der „vollen Identität“, was pseudo-konsequenterweise angeblich zu einem „Weniger-Ich“ führe, das wiederum „psychopolitisch der Kategorie der demokratischen Leere entspricht“.[10]
Das Fatale am der Blindheit hinter einer solchen Rede ist, dass Charim und zahlreiche andere Mitglieder des andererseits eindeutig liberalen, demokratisch-aufklärten Lagers nicht merken, wie sehr sie mit solchen Phrasen ihrem politischen Gegner in die Hände spielen. Charim hätte es eigentlich selbst sehen müssen: Sie kann nämlich das angebliche Bedürfnis nach ‚voller Identität‘ inhaltlich gar nicht anders bestimmen als in den Phantasmen ihrer politischen Gegner. Und da diese Phantasmen nun einmal nicht zu erfüllen sind (und nie erfüllbar waren), bleibt ihr nur noch die ratlose Feststellung eines quasi unheilbaren Mangels an Identität, dessen Vorteile nirgends mehr greifbar werden.
Politische Kampfbegriffe wie jenen der ‚sozialen Identität‘ kann man nur entkräften, indem man zeigt, dass sie inhaltlich einfach leer sind, erfunden, gegenstandslos. Im vorliegenden Fall ist dies durch jene Frage möglich, die lautet: „Was bedeutet der Begriff ‚soziale Identität‘ im heutigen politischen Sprachgebrauch?“ Im Versuch, hierauf zu antworten, zeigt sich sofort, dass seine Bedeutung im Grunde nur eine Wiederholung der politischen Forderungen der neuen Populisten ist, nämlich jene nach gesellschaftlicher Homogenität und der Herstellung einer ethnischen Herkunftsgemeinschaft. Die Behauptung des angeblichen Bedürfnisses ‚aller‘ Menschen nach dem, was sie einfach nur fordern, ist ein rhethorischer Trick. Er suggeriert, als würde es das, was sie doch erst herbeiführen wollen, in den tiefsten Urgründen unserer aller Seelen schon immer geben, und zwar in Gestalt einer unergründlichen Sehnsucht oder gar existenziellen Notwendigkeit. Das ist freilich unwahr.
Der Wahrheit unserer tiefsten sozialen Sehnsüchte kommen wir vermutlich deutlich näher, wenn wir uns fragen, was wir eigentlich nach Befriedigung unserer materiellen Grundbedürfnisse noch brauchen, um sozial zufrieden zu sein. Ohne hier in Details gehen zu können, meine ich, dass sich diese grundlegenden sozialen Bedürfnisse recht einfach benennen lassen. Wir brauchen vor allem
- eine soziale Umgebung, in der wir uns von anderen Menschen verstanden fühlen und umgekehrt meinen, andere Menschen zu verstehen sowie
- ein Minimum der Anerkennung der jeweiligen eigenen Person insgesamt, nicht nur als Mitglied z.B. einer Rechtsgemeinschaft und den daraus resultierenden formalrechtlichen gegenseitigen Geltungsansprüchen, sondern auch der privaten bis hin zur intimen gegenseitigen Bestätigung und Solidarität.
Dieses soziale Grundbedürfnis nach gegenseitigem Verständnis und entsprechender Anerkennung, wie es aus gesellschaftstheoretischer Perspektive mehrfach und grundlegend z.B. von Axel Honneth beschrieben wurde[11], hat aber mit gesellschaftlicher Homogenität, gar mit gemeinsamer ethnischer Herkunft nicht das Geringste zu tun. Wir alle wählen unsere Freundschaften praktisch nie nach diesen erfundenen Kriterien aus. Im Gegenteil, eine atmosphärisch und ethnisch homogene Gesellschaft wäre, abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht herstellbar ist, vermutlich höchst langweilig und obendrein inhärent schwer intolerant, weil die Herstellung der besagten Homogenität nur mit fortwährender und grundloser Gewalt durchsetzbar ist.
Meine Empfehlung lautet deshalb: Sollten Sie, lieber Leser, sich als Mitglied der Gemeinschaft liberal-aufgeklärt denkender, sozial toleranter Menschen empfinden, so verschwenden Sie ihre Zeit nicht mit der Suche nach dem pseudomythischen Einhorn sozialer Identität. Es gibt sie nicht. Wohl aber haben wir tiefe soziale Bedürfnisse, um deren fortlaufende Erfüllung wir uns aktiv bemühen sollten. Wir sollten versuchen zu verstehen und verstanden zu werden. Und in dem Maße, wie wir zur Anerkennung anderer Menschen imstande sind, dürfen wir auch die Anerkennung von uns selbst erwarten - und werden diese Anerkennung auch wahrscheinlich bekommen. (ws)
(Wolfgang Sohst ist Autor auf ResearchGate. Seine Aufsätze zur Metapyhsik und Sozialphilosophie finden Sie hier.)
* * *
[1] Im Zuge des Aufstiegs des aktuellen Populismus weltweit ist die Berufung auf eine in der Regel sog. ‚nationale‘ Identität beispielsweise auch in der Türkei und in Japan, vor allem aber auch neuerlich in Russland die Rede.
[2] Die Herkunft des modernen Begriffs ‚nationale Identität‘ erklärt historisch sehr plausibel Benedict Anderson in seinem Buch Imagined Communities.Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Verso Publishing, London/New Yor 1983 (dt.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Campus Bibliothek, Frankfurt am Main 21961.
[3] Zur Geschichte des Begriffs ‚Identität‘ siehe den Eintrag unter diesem Titel in: Joachim Ritter et. al.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 144. Schwabe Verlag, Basel 1971 – 2007 (13 Bände).
[4] So lautet beispielsweise die kompakte Definition auf einer Webseite der Universität Kassel zur Einführung in das Soziologiestudium, siehe: http://www.hochschulforschung.uni-kassel.de/soziologie-studium/htm/soziologiebegriffe.html (letzter Zugriff: 01.07.2018). Zahlreiche, meist sehr ähnliche Definitionen sind in der gesamten Fachliteratur zu finden.
[5] George Herbert Mead: Mind, Self and Society, University of Chicago, Illinois 1934; dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1968, S. 26 (Einleitung von Charles W. Morris).
[6] H. Tajfel, J. C. Turner: The social identity theory of intergroup behavior, in: S. Worchel, W. G. Austin (Hg.): Psychology of intergroup relations. Nelson-Hall, Chicago University Press, Illinois 1986, S. 7–24.
[6a] Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Verlag C.H. Beck Verlag, München 2007
[7] Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert.. Zsolnay Verlag, Wien 2018.
[8] Ebd., S. 47
[9] Ebd., S. 48; Kursivierung i.O.
[10] Ebd., S. 53
[11] Siehe beispielsweise sein bekanntestes Buch Kampf und Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Suhrkamp Verlag, stw Bd. 1129, Frankfurt am Main 72012 oder auch: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, stw Bd. 1959, Berlin 2010. Zum interkulturellen Begriff der sozialen Identität siehe auch den aktuellen und sehr informativen Aufsatz von Hans-Georg Soeffner: Identität – Gemeinschaft – Volk. Zur Illusionssemantik einer pluralen Gesellschaft, in: Becker, M; Kronenberg, V; Pompe, H. (Hrsg.), Fluchtpunkt Integration. Panorama eines Problemfeldes, Springer Verlag 2018, online hier abrufbar.