Wut als letztes Mittel

Der Wutbürger verliert die Geduld
Da verliert jemand die Geduld. Und viele rennen ihm nach.

Es heißt, der Wutbürger feiere weltweit frühliche Urständ. Das ist nicht ganz richtig: Er bringt sich nur in den westlich geprägten Industrieländern lautstark zu Gehör. In Ländern wir Russland, China und der Türkei - von Nordkorea ganz zu schweigen - regt sich keine Wut, jedenfalls nicht in der Form kollektiver Empörung gegen die Elite wie in den USA und Teilen der Europäischen Union. Die Wut wird in jenen autoritären Ländern auch nicht einfach unterdrückt, wie man vorschnell meinen könnte, nur weil eine vergleichsweise kleine Minderheit von Dissidenten (eine Art "Anti-Elite") dort kriminalisiert und sogar umgebracht wird. Vielmehr herrscht in ihnen zwar ebenfalls große Unzufriedenheit mit ihrer jeweiligen Elite. Dieser Affekt wird aber überkompensiert durch den festen Glauben, dass nur eine "starke Hand" (sprich: politische Gewalt gegenüber Andersdenkenden) Staat und Gesellschaft zusammenhalten könne.

Warum also ist die populistische Wut gerade in den Ländern so stark, wo objektiv dazu eigentlich geringerer Anlass besteht als in anderen, sehr autoritär regierten Regionen dieser Welt?

Wo viel Wut, da viel Verschwörungsdenken

Die Antwort scheint in der Differenz zwischen politischem Versprechen und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu liegen. Wo gar keine Freiheit versprochen wird und die Unterdrückung politischer Meinungsvielfalt zum staatlichen Hauptprogramm mit Ansage gehört, sind die psychosozialen Verhältnisse in gewisser Weise klarer als dort, wo viel Freiheit und Teilhabe versprochen wird, der Bürger jedoch das tiefe Gefühl hat, er sei in Wirklichkeit vollkommen irrelevant und werde mit solchen Versprechungen doch nur übers Ohr gehauen. Dazu passt die wuchernde Vermehrung der Verschwörungstheoretiker mit ihrem mentalen Konfetti, das ebenfalls in den Wutbürger-Ländern überdurchschnittlich gedeiht.

Der gemeinsame mentale Zustand hinter Bürgerwut und obsessive Pflege von Verschwörungsphantasien ist das Aufbegehren gegen ein Gefühl unendlicher Schwäche. Die Reaktion darauf ist einerseits das zornige Aufbäumen wie von einem physisch Gefesselten, der sich mit letzter Kraft seiner Ketten zu entledigen versucht, andererseits eine Flucht in die Konstruktion von Parallelwelten, um das Eingeständnis in die eigene intellektuelle Unfähigkeit zu bemänteln, die Welt immer noch als grundsätzlich zugängliches politisches Ereigniskontinuum zu verstehen, z.B. durch historische und politische Analyse.

Dieser Befund wiederum führt zu einem anderen Werturteil über all die Wut und ihre Verschwörungs-Zwangsjacke. Dahinter stehen Bedürfnisse, die man nicht moralisch bewerten sollte, auch wenn die Form ihrer Geltendmachung häufig ungenießbar ist. Das ist kein besonders origineller Gedanke; es fragt sich allerdings: Was ist dieses zugrunde liegende Bedürfnis? Worauf richtet es sich? Hier wird häufig auf ökonomische Gründe verwiesen, z.B. eine seit Jahrzehnten ständig zunehmende  weltweite Vermögensumverteilung zugunsten weniger Reicher oder die nicht steigenden Reallöhne z.B. in den USA. Dies ist jedoch nicht plausibel. Erstens geht es den Menschen im Durschnitt zumindest nicht schlechter als vor 20 oder 30 Jahren, und zweitens korrelieren solche eher kleinen Wohlstandsunterschiede historisch nicht mit öffentlichen Empörungswellen. Warum auch; Aufwand und Ertragschance scheinen hier in keinem vernünftigen Verhältnis zu stehen.

Als Grund der lautstark geäußerten Frustration kommt eher, wie gesagt, die Differenz zwischen einem epochalem Versprechen und seiner mangelhaften Einlösung in Frage. Das epochale Versprechen der Zeit seit dem 2. Weltkrieg lautet: Ab jetzt ist wirklich das Volk der Souverän, und aller mit Fleiß und persönlichen Opfern erarbeiteter Wohlstand wird ebenfalls durch den Souverän dynamisch verteilt. Nun ist dieses Versprechen allerdings, bei allem Nepotismus und Kungelei auch in den westlichen Industrieländern, grundsätzlich sogar erfüllt worden, zumindest deutlich stärker als in den modernen Groß-Despotien, die ich eingangs nannte. Warum also die ganze Aufregung?

Der Blick hinter den Spiegel des politischen Klimawandels

Es ist die Maxime des besagten epochalen Versprechens selbst, die das Problem generiert. Der westliche Wutbürger verliert die Geduld; es geht ihm nicht schnell genug, seitdem er verstanden hat, wie weit wir noch von dem idealen Zustand entfernt sind, der uns ideologisch bereits als Fast-Gegenwart erzählt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass genau die politische Freiheit, die wir wollen, mit einer Kakophonie unterschiedlichster Meinungen und Interpretationen der Wirklichkeit einhergeht. Jeder baut sich "seine" Wirklichkeit aus dem unendlichen Informations-Flohzirkus des Internets zusammen, die ihm gerade passt. Das wiederum verstärkt nochmals das Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen, denn er kann nicht leugnen, dass genau seine Auffassung der Welt höchst partikular und keineswegs mehrheitsfähig ist.

Wie also können wir auf diesen Zustand der westlichen Demokratien reagieren? Mein Vorschlag: Die Medien und die politischen Eliten sollten deutlicher betonen, dass gesellschaftlicher Fortschritt in Wirklichkeit sehr langsam vor sich geht; sie sollten sich auch nicht scheuen zuzugeben, dass ein Idealzustand niemals erreicht werden wird, schon deshalb nicht, weil gar keine Einigkeit über diesen Idealzustand besteht. Damit würden das epochale Versprechen, von dem oben die Rede war, deutlich realistischer ausfallen und weniger Angriffsfläche bieten. Und: Die gesellschaftlichen Eliten sollten gleichzeitig aufrichtiger und damit schärfer gegen jegliche Korruption in den jeweils eigenen Reihen vorgehen, denn Korruption ist Benzin ins Feuer der Wutbürger. Vielleicht lässt sich mit einer solchen ideologischen Justierung schon einiger Dampf aus dem unter hohen Druck geratenen westlichen Gesellschaftsmodell nehmen. (ws)

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