Richard V. Reeves: Von Jungen und Männern

Richard V. Reeves: Von Jungen und Männern (Cover)

Seit 25 Jahren arbeitet Richard V. Reeves als Sozialwissenschaftler zu Fragen des Geschlechterverhältnisses an der weltbekannten Brookings Institution, dem vielleicht renommiertesten Institut dieser Art auf der Welt. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Chancengleichheit (nicht nur der Geschlechter) oder dem Mangel daran. Bislang hatte er sich vor allem mit den sozialen Klassenunterschieden und solchen der Hautfarbe befasst. In seinem neuesten Buch behandelt er nun geschlechtsspezifische Unterschiede.

Reeves arbeitet empirisch; er ist kein politischer Aktivist. Folglich stützt sich seine gesamte Arbeit auf Studien, von denen der größte Teil gar nicht von ihm durchgeführt wurde, sondern von anderen sozialwissenschaftlichen Instituten auf der ganzen Welt, vornehmlich der westlichen. Er nimmt ideologisch bewusst keine Stellung. Das ist wichtig, denn wer zu Fragen des Geschlechterverhältnisses arbeitet, kommt schnell unter Verdacht, entweder ‚links‘ oder ‚rechts‘ zu stehen. Reeves steht explizit auf keiner Seite. Er lässt es sich allerdings nicht nehmen, infolge seiner Erkenntnisse beide Seiten des politischen Spektrums in unterschiedlicher Hinsicht zu kritisieren.

Als Reeves vor ca. 3 Jahren begann, sich mit empirischen Daten zum Geschlechterverhältnis zu beschäftigen, war er überrascht, gerade auf der männlichen Seite zahlreiche Trends festzustellen, die eines gemeinsam hatten: Sie zeigten allesamt nach unten. Die Probleme von Jungen und Männern nahmen in den letzten 30 Jahren in vielen Teilbereichen des Lebens kontinuierlich zu. Dies stand in besonders auffälligem Verhältnis zu den Daten der Mädchen und Frauen, die sich in praktisch allen Lebensbereichen, vom Einkommen, dem Bildungsgrad, der Gesundheit bis zur allgemeinen Lebenszufriedenheit gebessert haben.

Reeves stieg daraufhin tiefer in die Materie ein. Er stellte fest, dass die in diesem Zeitraum umfangreich ergriffenen Maßnahmen zur Linderung der Diskriminierung von Mädchen und Frauen offenbar sehr gute Wirkung gezeigt hatten. Ihnen ließ sich auch keine Verantwortung für die Verschlechterung der Situation der Männer zuschreiben. Der Zusammenhang war indirekter. Einige Faktoren der Situation der Jungen und Männer hatten überhaupt keinen Zusammenhang mit Geschlechterfragen. Dies waren solche, die technische Entwicklungen und globalwirtschaftliche Veränderungen der letzten Jahrzehnte betrafen. Andere Umstände betrafen die Schulsysteme in den untersuchten Ländern. Und schließlich gibt es auch einige hard facts, nämlich neue biologische Erkenntnisse, die zeigen, dass vor allem im Zeitraum vom Schulbeginn bis zum Ausbildungsende, d.h. in der Jugend, die Entwicklung von Mädchen und Jungen in einigen wichtigen Punkten unterschiedlich verläuft. Das wiederum hat im Zusammenspiel mit anderen Faktoren – politisch und gesellschaftlich vollkommen unbeabsichtigte – Vorteile für Mädchen und Nachteile für Jungen. Reeves sah seine Aufgabe folglich darin, all diese unterschiedlichen Trends und Faktoren zu einem kohärenten Bild zusammenzuführen. Das ist ihm nach Meinung von Fachleuten aller betroffenen Disziplinen sehr gut gelungen.

Reeves geht in den 12 Kapiteln seines Buches einzeln jedes Gebiet durch, das Einfluss auf die besaten Trends hat: (1) Bildung, (2) Arbeitsmarkt, (3) soziale Rollenveränderungen, (4) ethnische Diskriminierung, (5) die Wirkung von Armut, (6) Klassenunterschiede, (7) fehlgeleitete politische Steuerungsversuche, (8) linke Vorurteile, (9) rechte Vorurteile, (10) Schulsysteme, (11) geschlechtsspezifische Berufsrollen und (12) die Rolle der Vaterschaft in der Gesellschaft. In jedem dieser Felder berichtet Reeves den Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung anhand zahlreicher, aktueller Studien, deren wichtigste er auch grafisch darstellt.

Einige der wichtigsten Erkenntnisse für die Entwicklung heutiger Jungen und die Lebenschancen erwachsener Männer lauten:

  • Mädchen und Jungen entwickeln sich während ihrer gesamten Kindheit und Jugend aufgrund unterschiedlicher neuronaler, d.h. biologischer Prozesse in einem wichtigen Punkt mit unterschiedlicher Geschwindigkeit: Mädchen reifen in der sozialen Wahrnehmung und Intelligenz ab dem Einschulungsealter deutlich schneller als Jungen. Sie sind in sozial auf dem Höhepunkt dieses Unterschieds bis zu zwei Jahre ihren gleichaltrigen Klassenkameraden voraus. Die Jungen holen diesen Unterschied erst mit Anfang zwanzig wieder auf. Dies betrifft jedoch nur die soziale Entwicklung. Kognitiv (d.h. im Lesen, Schreiben, Rechnen etc.) gibt es in dieser Lebensphase keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Dieser spezielle Entwicklungsunteschied äußert sich im Alltag der Jugendlichen in vielen Situationen. Mädchen suchen sich ihre ersten intimen Freunde in dieser Zeit fast immer unter älteren Jungen; die gleichaltrigen Jungen sind für sie noch ‚Kinder‘ und damit keine adäquaten Partner. Mädchen verstehen die sozialen Regeln des Schulbetriebs aber auch besser. Sie sind disziplinierter, beharrlicher und weniger emotionsabhängig im Umgang mit den schulischen Anforderungen. Das ist einer der zentralen Gründe dafür, dass Mädchen überall auf der Welt (nicht nur im so genannten Westen) ihre gleichaltrigen männlichen Kameraden in der Leistung inzwischen deutlich hinter sich lassen.
  • Dieser weitgehend biologisch bedingte Entwicklungsunterschied in der Kindheit und Jugend hat auch enorme Auswirkungen auf die weitere Lebensperformance von Mädchen und Jungen. Jungen brechen wesentlich häufiger als Mädchen ihre spätere Berufsausbildung oder ihr Studium ab. Sie nehmen mehr Drogen, sind deutlich selbstmordgefährdeter und werden wesentlich häufiger kriminell. Weil die Gesellschaft auf diese Abweichungen meist relativ hart reagiert, geraten viele junge Männer in eine schon früh beginnende, dauerhafte Frustration und Lethargie. Sie werden dauerarbeitslos, ‚hängen herum‘, sind weitgehend unfähig, Beziehungsprobleme mit ihren IntimpartnerInnen zu lösen und leben deshalb heute insgesamt sehr viel einsamer als Frauen.
  • Diese problematischen Trends verstärkt nochmals ein weiterer biologischer Unterschied zwischen den Geschlechtern, nämlich ihre unterschiedliche Hormonausstattung. Testosteron als das Hormon, das typisch männliche Verhaltensweisen produziert, bewirkt beispielsweise, dass die Neigung zu aggressivem Verhalten bei Jungen bis zu fünf Mal höher ist als bei Mädchen. Dies ist besonders in allen sexuellen Belangen von hoher Bedeutung. Da die Empfindlichkeit gegenüber sexuellen Übergriffen in den letzten Jahrzehnten weltweit stark zugenommen hat und sexuelle Gewalt ganz überwiegend von Männern ausgeht, ist das Risiko einer ganz persönlichen Kritik männlichen Fehlverhaltens auf diesem Gebiet stark gestiegen. Dies trägt zu einer Rollenverunsicherung auf der männlichen Seite bei, die selbst dann noch fortbesteht, wenn sie sich vollkommen korrekt verhalten. Jungen sind heute viel schüchterner als früher.
  • Ein weiterer, ebenfalls sehr wichtiger Punkt betrifft die veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt und die korrespondierende Rolle des Mannes in der Familie. Noch bis in die 1970er Jahre waren typische männliche Berufe mit körperlicher Kraft verbunden, folglich wollten und mussten Männer muskulär stark sein, und das bestimmte auch viel mehr als heute ihre sexuelle Attraktivität. Früher generierten sie ferner den größten Teil des familiären Einkommens, während die Frau sich (unbezahlt) um Haushalt und Kinder kümmerte. Hier hat sich die Welt vielleicht am dramatischsten verändert. Die technische Entwicklung hat körperliche Arbeit nicht nur zurückgedrängt; sie hat sie auch stark entwertet. Gut bezahlte Arbeit ist heute ausschließlich unkörperliche Arbeit hoch professioneller Kräfte am Computer, in den Unternehmensführungen und im Verkauf. Männliche Körperkraft hat infolgedessen auch entsprechend an Attraktion bei den Frauen verloren. Und selbst das Einkommen von Frauen liegt kaum noch unter dem der Männer, wenn man die Nachteile durch Kinderbetreuung abzieht, die in Wirklichkeit gar nicht ein Geschlechternachteil sind, sondern ein konkreter Nachteil der Person, die die Kinder betreut, also auch des Mannes, wenn er diese Rolle übernimmt, oder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die kinderbetreuende PartnerIn.
  • Durch die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsene Selbständigkeit der Frauen ist heute der Mann auch psychologisch und emotional deutlich stärker von seiner weiblichen Partnerin abhängig als umgekehrt. Im Falle einer Trennung, die heute so wahrscheinlich ist wie nie zuvor in der Geschichte, gehen Frauen damit in der Regel deutlich nüchterner um und schaffen es folglich häufiger und schneller, einen neuen Partner zu finden, während Männer sehr viel häufiger als Frauen in dauernde Frustration und Einsamkeit verfallen, oft mit psychischen Folgen, die zusätzlich ihre Erwerbskraft schwächen. Aber auch in bestehenden Paarbeziehungen, vor allem jenen mit Kindern, sind Männer zunehmend irritiert, worin überhaupt ihr Beitrag zu der Familie besteht. Da ihre höhere Körperkraft uninteressant geworden ist und sie immer häufiger gar keinen Erwerbsvorsprung mehr vor ihrer Partnerin haben, fühlen sie zunehmend einen permanenten Mangel an sozialer Anerkennung und eine allgemeine, existenzielle Sinnlosigkeit.

Richard V. Reeves möchte selbstverständlich keine simplen Tipps zur Korrektur solcher Großtrends geben. Er hat aber immerhin bezüglich einiger Probleme interessante Vorschläge, die bereits in verschiedenen Ländern der Welt diskutiert werden. Dazu gehört beispielsweise eine einfache Maßnahme, um die besagte unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit von Mädchen und Jungen zu kompensieren. Er schlägt hier vor, Jungen grundsätzlich ein Jahr später einzuschulen als Mädchen, damit der biologisch bedingte Reifeunterschied in der Schule nicht mehr so stark wirkt. Er fordert die Regierungen der westlichen Ländern aber auch auf, mehr für die männliche Anerkennung bisher überwiegend weiblicher Berufe zu tun, vor allem im Bereich der Pflege, der Gesundheit und der frühkindlichen Erziehung.

Sein Buch ist eine unverzichtbares Update vor allem für alle jungen Väter und Mütter, die Entwicklung ihrer Kinder vorurteilsfreier zu sehen und bei sich anbahnenden Schwierigkeiten rechtzeitig empathische Maßnahmen zu ergreifen, denjenigen Jungen zu helfen, bei denen sich Probleme am Horizont ihrer Entwicklung abzeichnen.

Richard V. Reeves

Von Jungen und Männern.

Warum der moderne Mann Probleme hat, warum das wichtig ist und was man dagegen tun kann

xenomoi Verlag, Berlin

ISBN: 978-942106-86-3 (Harcover) · 28 €

oder 978-942106-89-4 (Paperback) · 24 €,

jeweils 265 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.

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