Wenn Demokratie sich radikalisiert

Der in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (stw, Bd. 2248) im Jahr 2019 erschienene Band, der sich als Handbuch zum Stichwort "Radikale Demokratietheore" versteht, geht sein Thema auf 832 Seiten aus mehreren Perspektiven an. In einem ersten Teil werden wichtige Vorläufer der politischen Theorie kursorisch besprochen, die man kennen sollte, auch wenn die zeitgenössischen Diskursteilnehmer selten auf sie Bezug nehmen. Im zweiten Teil kommen so genannte "Inspirationsquellen" zu Worte, d.h. Autoren, die sich im Kern zwar nicht als politische Denker verstanden, wohl aber bedeutende Impulse für die moderne Demokratietheorie begesteuert haben. Hierzu gehören auch Autoren wie Sigmund Freund, Ludwig Wittgenstein und Michel Foucault, darüber hinaus unter dem Titel "AutorInnen jenseits des Kanons" auch politische Akteure wie die englischen Sufragetten und die SchriftstellerInnen des Vormärz.

Im dritten und vielleicht wichtigsten Teil des Buches liefern die Herausgeber ihre Autoren schließlich eine Einführung in das Denken der wichtigsten Autoren dessen, was man in einem weiten Sinne des Wortes den "radikaldemokratischen Diskurs" nennen könnte. Hier werden folgende AkteuerInnen beschrieben:

  • Miguel Abensour
  • Giorgio Agamben
  • Alain Badiou
  • Étienne Balibar
  • Wendy Brown
  • Judith Butler
  • Cornelius Castoriadis
  • William E. Connolly
  • Simon Critchley
  • Gilles Deleuze
  • Jacques Derrida
  • Raymond Geuss
  • Jürgen Habermas
  • Michael Hardt und Antonio Negri
  • Bonnie Honig
  • Philipple Lacoue-Labarthe
  • Ernesto Laclau
  • Claude Lefort
  • Ingeborg Maus
  • John P MacCormick
  • Chantal Mouffe
  • Jean-Luc Nancy
  • Jacques Rancièrre
  • Richard Rorty
  • James Tully
  • Cornel West
  • Sheldon S. Wolin
  • Iris Marion Young
  • Slavoj Žižek

Da den Herausgebern aber wohl klar war, dass die meisten potenziellen Leser allein mit einer Darstellung der Gedanen und Werke dieser Autoren überfordert sein werden, wenn man nicht ihre teilweise sehr spezielle (und eigenwillige) Terminologie erklärt, folgt dem Band ein weiterer Teil, der zentrale Begriffe der radikaldemokratischen Theorie erläutert, und dies in wirklich ausgezeichneter Qualität. Das betrifft so unscheinbar daherkommende Worte wie 'Demokratie' , oder 'Ereignis', aber auch so zentrale und schon stärkeren Tobak ankündigende Begriffe wie 'Dissens/Konflikt/Kampf', 'Hegemonie', 'Populismus' und 'Radikal_ität', sowie zahlreiche weitere.

An diesen Teil schließt sich ein letzter an, die mit "Themenfelder" überschrieben ist. hier werden im Grunde ebenfalls zentrale Begriffe der politischen Theorie erläutert, allerdings eher in ihrem systematischen Zusammenhang bzw. als politische und ethische Maximen.

Wer den Band durchgearbeitet hat wird, wie ich zumindest, feststellen, dass etwas, das aus der Ferne ganz einheitlich und rund wie ein ferner Planet erscheint, beim Näherkommen immer zerklüfteter wird und sich schließlich als eine sehr bunte, keineswegs homogene Welt entpuppt, die so viele Aspekte unserer heutigen politischen Verfassung berührt, dass es schon erheblicher eigener Mühe bedarf, um überhaupt ein verbindendes Elemente zwischen den vielen Autoren und ihren Ideologien zu finden. Denn eines verbindet sie sicher alle: Die Mitstreiter des radikaldemokratischen Diskurses verstehen sich nicht als passive Beobachter, sondern als engagierte, sehr parteiische Teilnehmer des Geschehens auf dieser Welt. Der Band entlarvt gerade auch in der Mannigfaltigkeit der dort besprochenen ideologischen Geltungsansprüche, das manches hier heißer gegessen als gekocht wird, oder man könnte auch sagen: dass die Bescheidenheit nicht gerade die erste Tugend der dort geschilderten Protagonisten ist. Gerade das macht aber die Qualität dieses voluminösen Handbuchs aus: Es kriecht weder auf einer Schleimspur ihren Autoren hinterher, noch ist es vollkommen unengagiert. Es versucht, ehrlich zu verstehen.

Während die hier zu Worte kommenden, weltweit gelesenen Autoren im Wesentlich in akademischen Kreisen verhandelt werden und dem 'gemeinen' Publikum bisher weithin unbekannt sein dürften, ist es das Verdienst der Herausgeber dieses Bandes, mit diesem Buch Einblicke in eine Welt zu geben, die einiges an neuen Ideen zu bieten hat, auch wenn nicht alle dieser Ideen und ihrer Ansprüche bereits als reife Frucht gelten dürften.

Nur am Rande und als Appendix zur Empfehlung dieses Buches: Es wäre zu wünschen, dass Suhrkamp diesem Band einen weiteren folgen lässt, der nicht nur europäische und US-amerikanische Autoren zu Worte kommen lässt, sondern z.B. auch islamische, afrikanische und chinesische. Denn einerseits wird bei den westlichen radikalen Demokraten gerne über den Eurozentrismus ihrer jeweiligen Landsleute geschimpft. Sie selbst bewegen sich aber, und dies sei der ganzen Zunft der westlichen Radikaldemokraten ins Ohr geflüstert, ausschließlich in dem von ihnen selbst definierten Diskursuiversum. Wie wär's, wenn sie ihre Köpfe auch einmal über den eigenen Tellerrand erheben und auf die anderen großen politischen Traditionen der Welt blicken? (ws)

--------------------

Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch. Herausgegeben von Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff. Reihe: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (stw), Bd. 2248, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Preis: 30,00 €.

Zurück