Die technische Herstellbarkeit der Wirklichkeit des Wirklichen. Überlegungen zu einer Philosophie der Immersion (Tom Poljanšek)

Datum: 18.01.2021 (20:00:00–22:30:00)

Ort: Virtuelle Veranstaltung. Der Konferenz-Link wird rechtzeitig vor der Veranstaltung veröffentlicht

Affektiv wirksame Leiterbahnen, ganz wirklich
Affektiv wirksame Leiterbahnen, ganz wirklich

(Am Ende dieser Seite finden Sie einen Video-Mitschnitt des Vortrags und der anschließenden Diskussion.)

* * *

Die Idee der Herstellung künstlicher Wirklichkeiten ist nicht neu. Wer will, kann schon in Platons berüchtigtem Höhlengleichnis den Bauplan einer aus heutiger Sicht vielleicht etwas überproportioniert anmutenden Virtual Reality (VR) Brille erkennen: In einer ansonsten von äußeren Einflüssen so gut wie möglich isolierten Umgebung vermitteln 'künstlich' erzeugte sinnliche Eindrücke den mit ihrer Aufmerksamkeit ins audiovisuelle Spiel der Schatten Verwickelten das Erlebnis einer Wirklichkeit, die sie qualitativ nicht als künstliche Wirklichkeit erkennen. Konsequent wurde eine der ersten interaktiven VR-Anwendungen, welche in einer Kooperation von Künstlern und Informatikern konzipiert und realisiert wurde (Cruz-Neira, Sandin, Kenyon, Hart 1992), mit Bezug auf das Platonische Höhlengleichnis mit dem rekursiven Akronym CAVE (Cave Audio Visual Experience Automatic Virtual Environment) bezeichnet. Inzwischen bewegen sich VR-Anwendungen auf einem Niveau, das der Platonischen Vision erfahrungsseitig sehr viel näherkommt als frühere Versuche der Realisierung virtueller Wirklichkeiten.

Philosophen hat die Vorstellung der Möglichkeit solcher Szenarien, in denen Subjekten erfolgreich eine wirklich erscheinende Wirklichkeit vorgegaukelt wird, seit jeher erkenntnistheoretische Bauchschmerzen bereitet. Ob Platonische Höhle oder Descartes‘scher Dämon – 'skeptische' Szenarien dieser Art werden bis heute im Hinblick auf die Frage diskutiert, ob unseren sinnlichen Erfahrungen überhaupt zu trauen ist oder inwiefern wir zweifelsfrei ausschließen können, dass die vermeintlich wirkliche Wirklichkeit selbst nur eine Illusion ist. Aus einer zeitgenössischen Sicht muten diese erkenntnistheoretischen Debatten mitunter etwas dröge an. Der szenariengestützte Skeptizismus scheint über die letzten hundertfünfzig Jahre – möglicherweise auch aufgrund des unleugbaren Fortschritts der naturwissenschaftlichen Ergründung der Realität und der aus ihm erwachsenden technischen Errungenschaften – an evidenzieller Schlagkraft verloren zu haben.

Dennoch ist die inzwischen deutlich näher gerückte Realisierung täuschend echter VR nicht ohne erkenntnistheoretische Pointe: Diese setzt jedoch nicht so sehr an der Frage an, ob und inwiefern uns das, was uns wahrnehmungsmäßig gegeben ist, zum unbezweifelbaren Schluss auf eine wahrnehmungsunabhängige Realität berechtigt, sie besteht vielmehr umgekehrt in der Frage nach der technischen Herstellbarkeit als wirklich erlebbarer Szenen, Umgebungen und Objekte auf Seite der erlebenden Subjekte. So verweist die Möglichkeit täuschend echter VR auf den Umstand, dass es nicht zwingend korrelativer Realia (oder einer korrelativen Realität im Ganzen) bedarf, um bei einem erlebenden Subjekt den Eindruck wirklicher Objekte und Geschehnisse oder gar einer kontinuierlichen, wahrnehmungsunabhängigen Wirklichkeit zu erzeugen. Um etwas – nicht bloß im Sinne einer einzelnen Sinnestäuschung – kontinuierlich als wirklich zu erleben scheint es vielmehr auszureichen, Subjekte mit entsprechend akkordierten sensorischen Informationen zu versorgen, die mit seinen interaktiven Eingaben stimmig interagieren, gleichgültig, ob das 'Reale', das einem solchen Erleben für gewöhnlich entspricht, tatsächlich existiert oder nicht. Die Wirklichkeit des Wirklichen erwiese sich als ein technischer Effekt.

Im Anschluss an Überlegungen dieser Art werden im Vortrag in Auseinandersetzung mit Agnes Hellers Definition von Emotionen als „Involviertsein“ und Edmund Husserls Ausführungen zur „Einstimmigkeit“ der Erfahrung Ansätze einer Philosophie der „Immersion“ entwickelt (Heller 1980, Husserl 1980). Immersion ist ein Konzept, das heute vor allem im Gamingkontext Anwendung findet und hier die Fähigkeit eines Videospiels bezeichnet, seinen Verwenderinnen einerseits das Dargestellte als wirklich erscheinen zu lassen und sie andererseits mental ins Geschehen zu involvieren (etwa Murray 1997, McMahan 2003, Thon 2006). Gegenüber einer solchen, auf fiktive Szenarien beschränkten Definition der Immersion soll gezeigt werden, dass Immersion auch und gerade in Bezug auf das Erleben nicht-virtueller (geteilter wie nicht-geteilter) Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielt, wobei sich auch die Wirklichkeit des nicht-virtuellen, gewöhnlichen Wirklichen als relativ autonom gegenüber dem 'Realen' erweisen wird, dessen Existenz der Gegebenheit von Wirklichem gewöhnlich korreliert.

Zum Vortragenden

Tom Poljanšek

Tom Poljanšek ist seit April 2019 Assistent am Lehrstuhl Philosophie der Universtität Göttingen mit dem Schwerpunkt Theoretische Philosophie. Er habilitiert sich zum Thema: „Immersion als anthropologisches Grundphänomen“. Er promovierte im Februar 2019 mit einer Arbeit zum Thema „Simulation und geteilte Wirklichkeit“, betreut von Prof. Dr. Catrin Misselhorn und Prof. Dr. Barry Smith (University of Buffalo). Tom Poljanšek hat bereits zahlreiche Aufsätze zu Kommunikation in Sozialen Netzwerken, zum Begriff des gemeinsamen Handelns und zum technischen Umgang mit der Wirklichkeit verfasst, siehe hier.

Mitschnitt des Vortrags und der Diskussion

Zurück