Mythen, die Grundbausteine der menschlichen Realität

Datum: 20.02.2017 (20:00:00–22:30:00)

Ort: Alte Jakobstr. 12 / Ecke Ritterstr. (Tiyatrom Theater), 10969 Berlin

Komplexe Erzählungen im neuen Gewand
Komplexe Erzählungen im neuen Gewand

Mythen sind für viele Menschen Erzählungen aus einer Zeit, die nichts mit der unsrigen zu tun hat. Einer Zeit, in der Menschen an heidnische Götter glaubten, eine vorrationale, irrationale Zeit, von der uns nichts übrig geblieben ist, als Mythen. Diese Bild könnte nicht falscher sein.

Das Resultat einer jahrhundertealten, breit angelegten wissenschaftlichen Forschung zeigt, dass aitiologische Mythen hochrationale Erzählstrukturen sind. Mythen enthalten die Weisheit der gelebten Erfahrung aller unserer Vorfahren. Mythen sind die Grundbausteine einer jeden Kultur. Als solche konstituieren sie die menschliche Realität, das heißt, die Gesamtheit des von Menschen Geschaffenen und damit von einem wesentlichen Teil der menschlichen Lebenswelt. Aus diesem Grund ist die Auseinandersetzung mit Mythen keine Auseinandersetzung mit einer längst vergangenen und vergessenen Zeitepoche, sondern mit der eigenen Kultur, mit dem Hier und Jetzt  und seinen fundamentalsten Fragen: Wie ist das Universum entstanden? Wer sind wir? Wie sollten wir uns verhalten? Was sind die Kräfte, die größer sind als wir und die in gewissem Maße unser Leben regulieren?

Mythen sind nicht die einzigen rationalen Denkkonstruktionen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, und es gibt erhebliche Überschneidungen zwischen Mythologie und Philosophie, Religion, Geschichte und Wissenschaft. So decken z. B. die Wissenschaften die gleichen Themen ab, was Mythologie und Wissenschaft voneinander unterscheidet, ist die unterschiedliche Fragestellung, der unterschiedliche Ansatz sich den Themen zu nähern. In gewisser Weise kommen Mythen dort zum Tragen, wo die Wissenschaften an ihre Grenzen stoßen. Mythen fragen nach unser Beziehung zu den großen Kräften, die das Leben möglich machen, und sie fragen, wie wir uns den verschiedenen Lebensphasen stellen sollten, die jeder Menschen im Laufe seines Lebens durchläuft. Mythen enthalten die Wahrheit einer anderen Ordnung als jene anderer rationaler Denkkonstruktionen; und hierin liegt der (vermeintliche?) Mehrwert der Mythen.

In einer hochkomplexen, hochabstrakten, technisierten Zeit, die von der Logik sich selbst optimierender rationaler Systeme geprägt ist, sind Erzählungen von Göttern, Geistern und Dämonen Relikte, von denen eine gewisse Faszination ausgeht. Aber was hat es mit dieser Faszination auf sich? Mythen waren von jeher keine einfachen Erzählungen, sie erklären und legitimieren den Status Quo einer Gesellschaft. Das macht sie auch zu machtpolitischen Grundbausteinen. Die Funktionen von Mythen sind vielfältig, universell und zeitlos. Auch wenn die Mythen des heutigen Alltags andere narrative Strukturen aufweisen als jene der Antike, sind die gesellschaftlichen Funktionen, die sie in der Antike erfüllt haben, die gleichen, die unsere Gesellschaften heute zusammenhalten.

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Henri Schmit

Henri Schmit, Jahrgang 1969, wurde als Sänger und Musiker der luxemburger Band „Zen and the Art of Motorcycle Repairing“ bekannt. Ab 1996 wandelte er auf Solopfaden in London. Seit 2000 lebt er in Berlin und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Kunst und Philosophie.

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