Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

Menschen auf einer Einkaufsstraße

Sie sehen hier nicht nur Menschen. Sie sehen Personen.

In der Frage, die der Titel dieses kleinen Essays ist, steckt bereits ein Teil ihrer Beantwortung. Zunächst dürfte unwidersprochen gelten: Uns, den Menschen, ist bisher kein Tier bekannt, das imstande ist, eine solche Frage zu stellen. Und damit sind wir bereits mitten im Problem.

Schon seit knapp einhundert Jahren bemüht sich die seinerzeit noch junge Verhaltenspsychologie, mit naturwissenschaftlicher Methodik dem Unterschied zwischen Mensch und  Tier auf die Spur zu kommen. Sehr oft versuchte man beispielsweise herauszufinden, ob man bestimmten, kognitiv sehr entwickelten Tieren das Sprechen beibringen kann. 'Sprechen' muss hier nicht unbedingt bedeuten, akustische Sprachlaute produzieren zu können. 'Sprechen' meint hier eher, sich in sprachartiger Form verständigen zu können, z.B. durch Tippen auf Geräten, die sprachartige Konstrukte erzeugen. Sprechen hat offenbar viel mit Denken zu tun. Die Ergebnisse sind bis heute bescheiden. Kein Tier ist offenbar imstande, reine Behauptungssätze zu formulieren, die sich nicht auf seine konkrete Situation beziehen, oder gar eine Verständnisfrage zu stellen. Folglich verschob man die Frage, was Menschen von Tieren unterscheidet, auf jene noch allgemeinere, ob Tiere denken können. Diese Frage stellte sich jedoch als zu unpräzise heraus, weil viele Tiere offensichtlich zu komplexen Denkoperationen einschließlich Werkzeugproduktion und Lösungen von Problemen mittels Versuch und Irrtum imstande sind, und dennoch unendlich weit vom menschlichen Umgang mit der Welt entfernt zu sein scheinen.

Wie also könnte man noch etwas dichter an die entscheidende Frage herankommen? Ein weitere, sehr beliebte Formulierung der Frage nach dem Besonderen des Menschen konzentrierte sich auf 'das Bewusstsein': Angeblich sollte der Mensch ein besonderes Bewusstsein haben. Aber auch hier stellte sich bald heraus, dass viele Tiere, insbesondere Schimpansen und Bonobos, zwar ein Ich-Bewusstsein und auch ein Bewusstsein der unter Umständen sehr komplexen sozialen Zustände in ihrer Gruppe haben können. Das kann sogar stärker ausgeprägt sein als bei einigen unserer menschlichen Zeitgenossen. Aber auch durch diese Fähigkeit werden Tiere nicht zu menschähnlichen Wesen.

Der Fehler all dieser Ansätze scheint zu sein, dass sie immer nur auf Eigenschaften des Individuums, also eines Menschen oder eines Tieres, schauen und nicht auf die speziellen Fähigkeiten, die zu besonderen kollektiven Leistungen führen. Schaut man sich nämlich die Spezies Mensch unter diesem Gesichtspunkt an, so stellt man schnell fest, dass die erstaunlichsten Leistungen, die homo sapiens hervorgebracht hat, keine Einzelleistung einer bestimmten Person waren, sondern kollektive Leistungen, die teilweise die Akkumulation von Erfahrungen und deren Transformation in kollektives Wissen über viele Generationen hinweg voraussetzen. Eine Pyramide oder eine gothische Kathedrale baut man nicht 'einfach so'. Selbst das arabische Zahlensystem oder das griechische Alphabet sind kollektiv entwickelte und optimierte Erfindungen, die viele Generationen brauchten, um in der heute gebräuchlichen Form überall verwendet zu werden. In einem Computer steckt ein großer Teil des gesamten Menschheitswissens, so komplex ist die Idee und das technische Design einer solchen Maschine.

Ein Mensch zu sein bedeutet folglich ganz überwiegend, an diesem Prozess kollektiver Wissensakkumulation teilhaben zu können. Damit aber nicht genug. Denn menschliche Kollektive sind nicht nur Wissensakkumulatoren. Sie sind auch kollektive Selbstgestalter. Sie erfinden Mythen ihrer eigenen Existenzberechtigung und neuerdings auch Verfassungen, Gerichte, hoch spezialisierte Verwaltungen und allerhand weitere Organisationen und Institutionen, nicht zuletzt des Bildungswesens, die das akkumulierte Wissen in eigene, kollektive Lebensformen umsetzen. Dazu bedarf es zunächst eines symbolischen Denkvermögens, das so entwickelt ist, dass es uns, die Menschen, zu sehr komplexen Vorstellungen befähigt, die wir obendrein nach bestimmten Kriterien miteinander vergleichen und in der Praxis auf ihre kollektive Tauglichkeit hin ausprobieren können, ohne dass es hierzu einer Selektion auf genetischer Ebene bedarf.

Zu einem solchen symbolischen Denkvermögen tritt beim Menschen aber noch eine weitere Unterscheidung oder vielleicht auch Spaltung der Wirklichkeit hinzu, über die Tiere nicht zu verfügen scheinen. Dies ist die Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, oder kurz gesagt: zwischen Sein und Sollen. Nun darf man nicht auf den naheliegenden Kurzschluss verfallen, dass das, was sein soll, schon deshalb nicht ist. Eher ist das Gegenteil der Fall: Fast alles, was sein soll, ist inzwischen auch so. Dennoch ist das Sollen dadurch nicht aufgehoben, sondern das Sollen verschiebt seine Dynamik damit nur auf die Erhaltung eines Seins, dass das jeweilige Sollen bereits erfüllt. Sein und Sollen stehen also in keinem einfachen Gegensatz zueinander. Beide dieser Sphären spielen vielmehr auf eine nicht leicht zu durchschauende Weise zusammen und verfließen häufig sogar so stark ineinander, dass man kaum mehr sagen kann, was zu welcher Sphäre gehört. Nehmen wir beispielsweise ein verabschiedetes Gesetz: Mit seiner Verabschiedung wird es Teil der Wirklichkeit eines Kollektivs, also Teil dessen Seins. Gleichzeitig fordert ein Gesetz aber etwas von seinen Adressaten und droht sogar mit Sanktionen, wenn man ihm nicht gehorcht. In dieser Hinsicht liegt es also ebenso tief in der Sphäre des Sollens.

Menschen erziehen ferner ihre Kinder. Das tun Tiere, wenn überhaupt, nur marginal, auch die am höchsten entwickelten kaum. Die Erziehung von Menschenkindern ist aber ganz wesentlich die Ertüchtigung, den komplexen Unterschied von Sein und Sollen zu verstehen, und zwar kulturrelativ und mit allen praktischen Konsequenzen. Erst ein Mensch, der dies im Zuge seines Aufwachsens geradezu virtuos gelernt hat, bezeichnen wir als Person. Wir sollten also zwischen dem (biologischen) Menschen und der (sozialen) Person unterscheiden. Damit kommen wir auch ein Stück weiter auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: 'Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?' Die Antwort könnte lauten: 'Diese Frage lässt sich nur auf der biologischen Ebene beantworten, und das ist nicht ihr interessantester Aspekt. Wir sollten sie stattdessen etwas umformulieren, um sie damit in jener Hinsicht beantworten zu können, die uns wirklich interessiert, nämlich: Was bedeutet es, eine Person zu sein?"

Eine Person zu sein bedeutet, über die psychologischen und kognitiven Fähigkeiten zu verfügen, in beliebig großen Verantwortungszusammenhängen über das Verhältnis von Sein und Sollen nachdenken zu können und seine Handlungsmotive und sein konkretes Verhalten entsprechend selbst zu bilden. Das beginnt bei der eigenen Person in ihrem Umgang mit ihrem eigenen biologischen Körper und reicht bis hin zur Verantwortung eines Individuums als Teil vieler ineinander verschachtelter Kollektive für den Zustand der gesamten Biosphäre dieses Planeten - und womöglich eines Tages sogar noch darüber hinaus. (ws)

Frühere Leitartikel

Es gibt drei grundsätzliche Fragen, die symbolisch agierende Wesen gerne beantwortet hätten, die aber vermutlich auf absehbare Zeit nicht abschließend beantwortet werden können:

1. Wieso gibt es das alles: das Universum, die Erde, die menschliche Welt?
2. Wie verhält sich die Bestimmtheit der Welt (ihre Bedingtheit, Determination, Regeln) zur strukturellen Entwicklungsfreiheit der Dinge und der Menschen?
3. Hat die Welt einen immanenten Sinn (einen Zweck, ein Ziel, eine Bestimmung)?

Der Ökonom Jonathan Schulz und der Evolutionsbiologe Joseph Heinrich (beide an amerikanischen Universitäten, ferner weitere Koautoren) haben kürzlich in der renommierten Zeitrschrift Science (Nr. 6466 / Bd. 366 vom 08.11.2019) einen spektakuläres Untersuchungsergebnis veröffentlicht. Sie stellten sich die alte und immer wieder heftig diskutierte Frage, warum sich bestimmte Regionen der Welt institutionell und wirtschaftlich so viel stärker entwickelt haben als andere. Eine solche Untersuchung ist alles andere als theoretisch.

Die Pascalsche Wette ist bekannt geworden, weil sie angeblich beweist, dass es selbst bei unsicherer Tatsachenlage betr. die Existenz Gottes vorzuziehen sei, an Gott zu glauben: Man gewinne bei gleichem Einsatz mehr, als wenn man sich dem Unglauben ergebe. Leider sitzt der populäre Glaube an Pascals Gedankenspiel einem logischen Irrtum seines Urhebers auf, der natürlich schon längst bemerkt wurde. Fraglich ist allerdings, wie man den Fehler Pascals beheben kann. Der Beitrag zeigt, dass eine dreiwertige Aufmachung des logischen Kalküls ein überraschend klares und positives Ergebnis bringt.

Es gibt Grundfragen des sozialen Zusammenlebens von Menschen, die notorisch schwer zu beantworten sind. Überhaupt eine Antwort auf sie zu geben ist bereits schwierig, und unter den möglichen Antworten, sofern sie halbwegs plausibel sind, die bessere oder beste von den schlechteren zu unterscheiden, bleibt häufig dem subjektiven Belieben überlassen. Zwei solcher besonders schwierigen Fragen lauten:

  1. Was ist der Sinn eines bestimmten Kollektivs, z.B. einer Familie, eines Sportvereins oder einer ganzen Gesellschaft?
  2. Gibt es absolute Verhaltensmaßstäbe (Moral) für ein solches Kollektiv?

Wenn wir heute von Toleranz sprechen und diese als Option zur Lösung dauerhafter, vor allem ideologischer Konflikte vorschlagen, so ist häufig nicht ganz klar, was für eine Einstellung oder Geisteshaltung damit überhaupt gemeint ist, bzw. wie man Toleranz produzieren kann. Wir haben es im schwächsten Falle der Toleranz lediglich mit einer Duldung Andersdenkender oder Andershandelnder zu tun, im stärksten oder besten Falle mit etwas, was man als 'Anerkennung' des Anderen bezeichnen kann.

Wenn Menschen etwas "einfach schön" oder "total hässlich" finden, ist das solange ihre für den Rest der Menschheit eine belanglose Privatsache, wie sie auf eine mögliche Nachfrage betreffend die Gründe einer solchen Bemerkung keine weiterführende Antwort geben können. Willkommen im bunten, häufig aufgeregten und manchmal nervigen Zirkus der reinen Geschmacksurteile.

Es gibt wohl keine wichtigere Frage im weltweiten Nachdenken über die Zukunft menschlicher Gesellschaften als die Frage, ob über den technischen Fortschritt hinaus, der unstrittig ist, auch ein moralischer Fortschritt zu erreichen sei bzw. womöglich sogar notwendig mit dem technischen Fortschritt einhergehe.

Jene Tätigkeit, die die Menschen vor allem der abendländischen Kultur als 'philosophieren' bezeichnen, wird seit über 2.000 Jahren mal feierlich, mal eher abfällig betrachtet. Was können wir heute überhaupt noch als Philosophie bezeichnen, und welchen persönlichen oder gesellschaftlichen Nutzen hat das Philosophieren jenseits akademischer Expertenwelten und ihrer Eitelkeiten wirklich?

Es überkommt uns in vielen Nuancen, Schattierungen und Gestalten. Mal ist es empörend, andermal einfach erstaunlich, dann wieder unfassbares Glück, manchmal auch ohne jedes Gefühl einfach nur unmöglich zu verstehen. Am Unheimlichsten ist das Undenkbare vielleicht dann, wenn es gar nicht schwer zu verstehen und der Bereich emotionaler Reaktionen längst überschritten ist: Es tritt etwas ein, das wir nie erwartet haben. Die Realisierung des äußerst Unwahrscheinlichen.

Die Wahrheit insbsonderer öffentlicher Aussagen ist heutzutage mehr denn je schweren Angriffen ausgesetzt, und dies bis auf die höchste Ebene weltpolitischer Auseinandersetzungen. Derlei häufig sehr verantwortungsloses Verhalten nutzt eine Schwachstelle menschlicher Orientierung und Kommunikation aus, die sich leider nicht einfach dadurch beheben lässt, dass man ihr Verhalten missbilligt. Der folgende Text weist auf analytische Werkzeuge hin, die in Streitigkeiten um die Wahrheit von Aussagen bei der Klärung helfen können.