Was heißt 'Frieden'?

Gerechtigkeit und Frieden von Corrado Giaquinto

Gerechtigkeit und Frieden. Gemälde von Corrado Giaquinto (1694-1765), Museo del Prado, Madrid.

Der relative Wert des Friedens

Der gemeinsame, soziale Frieden ist ein hohes Gut. Es wäre allerdings ein Fehler, ihn lediglich mit einem Zustand der Gewaltlosigkeit zu verwechseln. Zwar ist das Verstummen der Waffen das äußerlich wichtigste Zeichen eines Friedens, insbesondere nach einem Krieg. Der einfache Verzicht auf Gewalt kann aber noch keinen Frieden begründen, wenn zuvor Unfrieden oder einfach gesellschatliches Chaos herrschte, z.B. als Krieg oder permanent hin und her wogende Blutrache oder in Gestalt eines so genannten failed state. Was aber macht dann einen 'wirklichen' Frieden möglich?

Die Geschichte lehrt uns, dass die Waffen erst schweigen, wenn eine auf beiden Seiten akzeptable neue soziale und politische Ordnung gefunden ist, die den Beteiligten nicht unbedingt optimal, aber zumindest besser als eine Fortsetzung des Unfriedens, meist in Form von Krieg, erscheint. Das muss keineswegs immer ein Verhandlungsergebnis sein. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts wurden zwar durch einen formalen Friedensschluss beendet, aber erst infolge einer derartigen Erschöpfung zumindest einer der Kriegsparteien, dass eine Fortsetzung des Krieges nicht mehr machbar erschien. Beide Weltkriege kamen erst nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zustande.

Von Frieden spricht man immer vor dem Hintergrund drohender Konflikte. Der Begriff 'Frieden' ist das dialektische Gegenstück zu 'Krieg' oder 'Konflikt'. Wo kein solcher Konflikt droht, spricht auch niemand vom Frieden, weil er so selbstverständlich ist wie die Schwerkraft, die uns am Boden hält. Niemand spricht deshalb von einer ohnehin unmöglichen Schwerelosigkeit auf der Erde. Man kann persönlich zwar über- oder untergewichtig sein, was aber kaum als Einwand gegen die Schwerkraft zu verstehen ist.

Etymologisch ist 'Frieden' ein sehr alter Begriff. Laut dem Herkunftswörterbuch des DUDEN-Verlages bezeichnet der Ausdruck einen "Zustand der ungebrochenen Rechtsordnung als Grundlage des Gemeinschaftslebens". Damit kommen wir der Sache schon näher, was Frieden (nach dem Ende eines vorangehenden Konflikts) eigentlichen bedeutet, nämliche die Wiederherstellung einer bestimmten sozialen Ordnung bzw. im formalen Sinne einer Rechtsordnung. Wie gesagt: Die Herstellung eines solchen Zustandes muss keineswegs auf einer freiwilligen Einigung der Konfliktparteien beruhen. Frieden kann auch die Folge eines 'Siegfriedens' bedeuten, wie sich die Nazis ausdrückten.

Wer siegen will, trägt auch eine moralische Beweislast

Wenn Frieden als Folge eines Konflikts aber die neuerliche Herstellung einer für alle Konfliktparteien verbindlichen Sozial- und Rechtsordnung ist, dann stellt sich die Frage der Rechtfertigung jener neuen Ordnung. Ist sie im Sinne eines 'Siegfriedens' von der überlegenen Partei einfach oktroyiert, kann man den dadurch hergestellten Frieden nur dann gutheißen, wenn der errungene Sieg eben nicht nur ein militärischer, sondern auch ein moralischer ist. Das heißt: Selbst ein vom Sieger mit Gewalt oktroyierter Frieden muss kein 'schlechter' Friede sein - es kommt auf die Qualität der Ordnung an, die die Siegermacht befiehlt. Ein starkes Beispiel solcher unterschiedlicher Friedensvorstellungen, die sogar parallel und gleichzeitig realisiert werden können, war das Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Ergebnis wurde die Welt danach in die zwei großen Einflusszonen der USA und der Sowjetunion aufgeteilt. Während der Frieden im US-amerikanischen Block auch im damaligen Westdeutschland insofern als 'guter' Friede aufgefasst wurde, weil er der moralisch überlegenen Konfliktpartei zum Sieg verholfen hatte, galt der in der Einflusssphäre der Sowjetunion eingetretene Frieden weithin, und zwar auch innerhalb dieser Sphäre selbst, als sehr 'schlechter' Zustand, nämlich als der einer Ordnung auf der Grundlage politischen Terrors. Hier wurden nach dem Ende des blutigen Konflikts also parallel gleich zwei und sehr unterschiedliche Friedensordnungen eingeführt

Man kann nun darüber streiten, ob pauschale Werturteile über solche Friedensordnungen richtig sind oder nicht. Darauf kommt es während eines laufenden Konflikts aber gar nicht an, sondern vielmehr auf die jeweils aktuellen Aussichten eines möglichen Friedens. Wenn, wie im gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine, von vielen Seiten zu Recht eingewandt wird, dass dies in Wirklichkeit ein Krieg der westlichen Allianz gegen Russland sei, so stellt sich auch hier die eminente Frage, welcher Frieden überhaupt akzeptabel wäre. Vladimir Putin besteht offenbar ultimativ auf einem Siegfrieden. Das ist nicht von vornherein verwerflich. Auch die USA haben mit ihrem Eingreifen in den Zweiten Weltkrieg auf einem Siegfrieden bestanden. Ein solches Ansinnen ist aber nur dann akzeptabel, wenn die Konfliktpartei, die einen Frieden nur als Folge des eigenen Sieges akeptieren würde, auch schlüssig darlegen kann, wieso ihr Sieg moralisch und politisch die für sie einzig akzeptable, weil eindeutig bessere Variante ist.

Diesen Beweis bleibt Putin schuldig. Es ist auffällig, dass er die russische Aggression nur mit Vorwürfen gegen die USA und ihre Verbündeten begründet. Er hat offenbar nichts zu bieten, was die eigene Qualität der in Russland herrschenden Sozial- und Rechtsordnung betrifft. Das heißt: Russland kann seine Aggression nicht mit einer Darstellung der moralischen Überlegenheit der in Russland herrschenden Zustände begründen. Das dürfte auch nicht ganz einfach sein, wenn man bedenkt, wie viele politische Gefangene in russischen Gefängnissen sitzen und mit welcher Regelmäßigkeit dort Opositionelle umgebracht werden.

Der hohe Wert des kollektiven Selbstbestimmungsrechts

Nun sind die USA selbst kein Musterknabe politischer Moral. Das behauptet auch niemand. Entscheidend ist vielmehr, was die UkrainerInnen selbst wollen. Die haben schon vor Jahren entschieden, sich lieber dem Westen anschließen zu wollen, und zwar insbesondere der Europäischen Union, die man nicht einfach mit den USA in einen Topf werfen sollte. Wenn also Russland meint, der von ihnen angestrebte Frieden sei besser als die Ordnung, die bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine herrschte, so schuldet Russland zu allererst eine plausible Begründung, wieso die politische Ordnung, die sie nach ihrem Sieg in der Ukraine einführen würden, tatsächlich die bessere wäre als das, was sich die UkrainerInnen von einem Anschluss an die Europäische Union erhoffen. Dazu ist Russland aber offensichtlich nicht imstande. Stattdessen drehen die politischen Eliten dort die Begründung um und behaupten, die Ukraine sei 'völkisch' ohnehin ein Teil Russlands, was historisch bestenfalls halb wahr ist und im Übrigen auf ungute Weise an die nationalsozialistische Rhetorik erinnert. Alle moralischen Überzeugungsversuche sowie das weltweit und von Russland selbst anerkannte Völkerrecht werden hier vom Tisch gewischt.

Wie dieser Krieg ausgehen wird, weiß bislang niemand. Man sollte sich aber nicht darüber täuschen, dass es hier tatsächlich um eine Frage der politischen Weltordnung geht: Darf moralisch begründungslose Gewalt ein legitimes Mittel der politischen Gestaltung sein? Ich denke, die Frage erübrigt sich. Die Antwortet darauf lautet: Nein. Die umgekehrte Frage lautet dann aber: Ist Gewalt dann gerechtfertigt, wenn sie der Abwehr moralisch und völkerrechtlich begründungsloser Gewalt dient? Diese Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten. Im Prinzip aber muss die Antwort wohl lauten: Ja; diese Art von Gewalt ist gerechtfertigt. Frieden ist nicht nur Gewaltlosigkeit. Frieden ist auch eine Sache des Prinzips, unter welchen Umständen er akzeptabel ist. (ws)

Frühere Leitartikel

Das Gespenst vom gesellschaftlichen Ziel der Ausrottung des Bösen durch das Gute ist nicht so leicht zu besiegen. Dieser Wahn, keineswegs nur in extremistisch-islamischen Regionen dieser Welt heimisch, sondern auch in den starkreligiösen USA überwach, ist eine Obsession, die man als Nichtbesessener kaum versteht. Dabei bedarf es nur eines kurzen Blicks in die jüngere Geistesgeschichte, um zu sehen, dass die Rede vom Kampf des Guten gegen das Böse - jenseits religiösen Wahns - nur leerer Schall und Rauch ist. Die Welt funktioniert einfach anders.

Wer ist diese intellektuelle Rechte, die mit ihren ununterbrochen apokalyptischen Warnungen vor einer Spaltung und vor einer Überfremdung der Gesellschaft, gerne auch vor einer Ausplünderung der angeblich so fleißigen, kultivierten und treuherzigen Deutschen an die Öffentlichkeit drängt? Im Folgenden geht es nicht um konkrete Namen. Stattdessen wird kurz beschrieben, welches Menschenbild diese Intellektuellen vereint, und was das Giftige ihres geistigen Nahrungsangebots ausmacht.

Amartya Sen (Nobelpreisträger des Jahres 1998 für Ökonomie) legt in seinem Buch "Die Identitätsfalle" übrzeugend dar, dass es (gegen Samuel Huntington's These) keinen Krieg der Kulturen gibt. Menschliche Kulturen sind zu vielfältig, um sie in die simplen Schemata einer Religion, Nationalität oder was auch immer zu pressen. Wohl aber scheint es, seinen eigenen Beweisen folgend, einen Kampf der Vernunft gegen den Obsukarantismus und die Intoleranz zu geben, soweit wir in der Geschichte aller Kulturen auch nur zurückblicken können.

Ein mächtiges Gespenst geht um in Europa, und zwar schon lange, bevor der Kontinent und seine Bewohner ihre Scholle so nannten. Es ist dies die spezifisch abendländische Vorstellung, dass der Mensch primär von seinem Selbsterhaltungsstreben angetrieben sei. Alternativen in Sicht? Ich denke, schon...

Der griechische Philosoph Panajotis Kondylis (1943-1998) geht in seiner Sozialontologie sehr nuanciert und äußerst kenntnisreich auf ein Thema ein, dass uns heute mehr denn je betrifft: den Umgang mit Fremden. Der folgenden Auszug aus "Das Politische und der Mensch." Grundzüge der Sozialontologie Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, Akademie Verlag, Berlin 1999, lehrt uns, wie der unaufgeregte und dennoch sehr humane Umgang mit "dem Fremden" stattfinden kann.

Wir leben im Zeitalter der Bilder. Jenes der Zeichen haben wir hinter uns. Im Kampf um die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten haben die Zeichen grundsätzlich das Nachsehen: Sie müssen interpretiert werden. Bilder, besonders die bewegten, sind da klar im Vorteil. Ihre suggestive Unmittelbarkeit schlägt alle anderen visuellen Konkurrenten mühelos aus dem Feld. Ob das als Fortschritt zu bezeichnen ist, bleibt abzuwarten.

Der Zeitgeist meint es gerade nicht besonders gut mit der Vernunft. Lang ist es her, dass Leute vom Range eines Voltaire und Kant sich für sie einsetzten. Die Vernunft ist heute überall in der Defensive. Sie muss sich vor allem in den verwöhnten und reichen Ländern der Erde gegen den Vorwurf der Gefühlskälte, der Langweiligkeit, der Besserwisserei, gar der regelrechten Arroganz verteidigen. Was ist schief gelaufen, dass der vernünftig auftretende Mensch so schlechte Karten hat? - Von Georg Sultan

Im Jahre 1911, also vor etwas mehr als 100 Jahren und nicht zufällig zu jener Zeit, als auch Sigmund Freud intensiv über Sexualität (dabei "Irgendwie" auch über die gesamte Geschlechterfrage) nachdachte, schrieb der schon zu Lebzeiten berühmte Philosoph und Soziologe Georg Simmel über das Verhältnis des Weiblichen und Männlichen zueinander. Simmels Text ist wegen seiner Subtilität bemerkenswert. Trotz aller Rückständigkeit seiner Zeit in Fragen der Gleichbereichtigung, in der z.B. fast gleichzeitig zu seinem hier abgedruckten Text Otto Weininger im Jahre 1903 sein bösartig-lächerliches Traktat "Geschlecht und Charakter" schrieb, verfasste Simmel einen Aufsatz, der nicht nur soziologische Fakten zu erhellen versucht, sondern vor allem auf die existenzielle Notwendigkeit einer Differenz abstellt, ohne die uns Menschen die Lust am Leben womöglich in erheblichem Umfange vergehen könnte. Er verortet diese Differenz, bei aller Wissenschaftlichkeit, letztlich an seltsam undurchdringlichen Orten, an reichlich unzugänglichen Stellen der kollektiven Psyche. Seine Beschreibung würde in mancher Hinsicht, von heutigen Diskutanten irgendwo auf einem universitären Podium vorgetragen, wahrscheinlich nur Häme ernten. Doch eine solche Verurteilung ist oberflächlich. Denn Simmel schreibt nicht aus mangelndem Respekt oder gar Verachtung für das Weibliche, sondern aus dem ehrlichen und sehr kritischen Versuch heraus, die Notwendigkeit der Geschlechterdifferenz, wie immer man sie auffassen mag, in eine für alle Beteiligten positive Form zu bringen.

Es folgt der gesamte, ungekürzte Text seines Aufsatzes aus dem Jahre 1911.

Während die klassische Staatstheorie den Staat schon seit Thomas Hobbes (als Vertrag der Gründungsmitglieder) über Lorenz von Stein (als Idee des Sozialstaats) bis zum modernen Institutionalismus z.B. bei Francis Fukuyama als Lösung des Problems ansieht, wie man den Einzelnen vor dem ungezügelten Egoismus seinesgleichen schützen kann, gibt es - um mit Freud zu sprechen - ein zunehmendes Unbehagen in der politischen Kultur angesichts einer immer umfassenderen und kaum mehr zu kontrollierenden Staatsmacht, die sich verselbständigt und tendenziell sich die Bürger weit über das Maß hinaus unterwirft, als dies für das Gemeinwohl notwendig ist. Dies gilt keineswegs nur für autoritäre Staaten, sondern zunehmend auch für die westlichen "Kernländer" demokratischer Verfassung. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat bereits im Jahre 1972, gegen den damaligen Mainstream, vor einer solchen Entwicklung mit wirkungsmächtigen Argumenten gewarnt. Sein Text hat nichts an Aktualität verloren.

Bereits seit ca. 30 Jahren ist ein ständig steigendes Interesse an der Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs aus dem ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit zu beobachten. Tove Elisabeth Kruse (Forskning - Roskilde Universitet, Dänemark), zeigt in einem Aufsatz aus dem Jahre 1999 einige zentrale Aspekte des faszinierenden Übergangs vom mittelalterlichen zum modernen Denken auf.