The big gap

Eine Montage aus einem steinernen Urgespenst und Bildern der europäischen Aufklärung

Das Urvieh im Menschen kommt immer wieder durch

Das westliche Menschenbild und Gesellschaftsideal stellt uns vor mehr Probleme als je zuvor. Sie resultieren zu großen Teilen aus dem Bild vom idealen Menschen und seiner ihn erlösenden Gesellschaft aus der Gefangenschaft vorangehender Unvernunft, das uns die Aufklärung hinterlassen hat. Im Folgenden sollen die Grundzüge sowohl dieses Programms als auch die Folgen seiner Kollision mit der anthropologischen Wirklichkeit unserer Spezies beleuchtet werden.

Wie lautet das Ideal des aufgeklärten Menschen?

Die Aufklärer:innen, vor allem in Frankreich, versuchten sich in erster Linie von der Unterdrückung durch absolute Monarchen, Kirche und Adel zu befreien. Als zentralen ideologischen Gegner machten sie dabei die Kirche und die christliche Metaphysik aus, die den Menschen einredeten, dass ihr Leben auf Erden nichts wer sei und das Heil der Erlösung von ihrer sündhaften irdischen Existenz nur durch die Unterwerfung unter christliche Dogmen und Machtstrukturen möglich sei. Leider hatten die Aufklärer weder in Frankreich noch in England jedoch eine neue und ähnliche starke Lehre wie die christlichen Kirchen zu bieten, wenn es um die Anerkennung moralischer Verhaltensgrundsätze im Zusammenleben ging. Insbesondere fehlte es ihnen an einer Begründung, warum sich Menschen moralisch und sozial verhalten sollen, wenn es keine höchste, göttliche Instanz mehr gibt, die dies verlangt. Sie mussten deshalb zu Ersatzmitteln greifen, die zumindest attraktiv genug waren, das breite Publikum gegen die christlichen Lebensideale aufzubringen. Dies leisteten sie in Form von zwei Begriffen, die zur Hauptwaffe der Aufklärung gegen ihre erklärten Feinde in ganz Europa wurden. Sie lauteten

  • "Vernunft" und
  • "Natur".

Zur Vernunft: Die Behauptung, der Mensch sei 'in Wirklichkeit' ein vernünftiges Wesen, diente der Bekämpfung des christlichen Dogmas, demzufolge der Mensch an sich selbst nicht imstande sei, ein gutes Leben zu führen. Dazu bedürfe er der göttlicher Hilfe, die ihm nur durch festen, unerschütterlichen Glauben an die göttliche Über-Vernunft gewährt würde. Wer dies nicht einsehe, sei absoluter Vewirrung und letztlich der Verdammung im Jüngsten Gericht ausgeliefert. Indem die Aufklärer:innen behaupteten, der Mensch sei an sich selbst vernünftig und würde nur durch seine religiösen Unterdrücker auf den Status eines unmündigen Kleinkindes herabgedrückt, gelang es ihnen tatsächlich, das christliche Weltbild quasi zu enthaupten, indem sie die Vorstellung eines moralischen und allwissenden Über-Gottes als Trugbild entlarvten und ihre Anhänger zur Selbstermächtigung aufforderten - allerdings verbunden mit der (nunmehr nicht mehr letztbegründbaren) Pflicht, sich weiterhin moralisch korrekt zu verhalten. Dieser Mangel an Letztbegründung zum moralisch guten Verhalten stellte sich als sehr schwerwiegend heraus, was auch sofort vom christlichen Klerus mit Nachdruck geltend gemacht wurde. Das damit aufgeworfene Problem ist bis heute ungelöst. Dennoch war der aufklärerische Slogan des self empowerment der menschlichen Spezies enorm attraktiv und entsprechend erfolgreich. Sie liegt bis heute dem gesamten Selbstbewusstsein der Menschen in der westlichen Welt zugrunde, insbesondere dem freien Unternehmertum und der politischen Selbstbestimmungsidee.

Zur Natur: Um die bis dahin sehr frommen und auf Erlösung im Jenseits erpichten Menschen in ganz Europa von der Entwertung aller Körperlichkeit und entsprechenden Freuden im Diesseits zu erlösen, d.h. im Endeffekt das Diesseits aufzuwerten, betonten die Aufklärer:innen die Herrlichkeit der Natur und die natürlichen, d.h. biologischen und damit auch sexuellen Wurzeln des Gattungswesens Mensch. Auch diese Idee erwies sich umgehend als sehr erfolgreich, weil der damit ausgelöste, kollektive Hedonismus eine Befreiung vom ewigen Schuldgefühl und eine bis dahin unvorstellbare Freiheit in Aussicht stellte. Beide Schlagworte entfalteten in den nachfolgenden Jahrhunderten eine enorme Wirkung.

Das idealisierte Menschenbild der Aufklärung

Die intellektuell führenden Köpfe der Aufklärung stellten sich den Menschen ungefähr so vor: Er sei 'eigentlich'

  • vernünftig im Sinne von kühl und rational abwägend und sich der jeweiligen Wirklichkeit unvoreingenommen bewusst
  • weltanschaulich tolerant und resilient gegenüber Herausforderungen seines eigenen Weltbildes
  • überwiegend selbstlos, d.h. er stellt das Gemeinwohl über den Eigennutz
  • nahezu perfekt impulskontrolliert, d.h. hat sich emotional im Griff und ist deshalb sozial verlässlich
  • so intelligent, dass er nicht auf politische Rattenfänger hereinfällt
  • bereit nachzugeben, wenn in den demokratischen Wahlen eine andere als die favorisierte Partei gewinnt

und ähnliches mehr. Also kurz gesagt: Ein Idealtyp, den es fast nirgends gab und auch heute kaum anzutreffen ist.

Der große Irrtum

Die Aufklärer:innen unterlagen in ihrer revolutionären Euphorie dabei nicht nur einem inhaltlichen Irrtum. Sie verwechselten auch das vorstehend dargestellte, ideale Menschenbild mit der Wirklichkeit 'des Menschen', die sozusagen von selbst zum Vorschein kommt und sich Geltung verschafft, wenn man nur die Unterdrückung durch Kirche und Staaten beseitigt. Speziell dieser Irrtum stellte sich in der Folgezeit als besonders problematisch heraus.

Das Problem der Verwechslung von Wunschbild und Wirklichkeit liegt darin, dass sich nach einer Weile - was im Falle des westlichen Kulturraums knapp zweihundert Jahre dauerte - kollektiv das unangenehme Gefühl einschleicht, dass das stolz gepflegte Ideal nicht nur noch nicht veriwrklicht sei, sondern womöglich nie erreichbar sein wird. Wenn dieser Gedanke aufkeimt, tut sich plötzlich ein gähnender Abgrund im kollektiven Weltverhältnis auf: The big gap. Diese Kluft hat leider nicht nur eine, sondern viele Ursachen: (1) Zwei Weltkriege inklusive präzedenzlosem Genozid, beide von Europa ausgehend, schlugen dem Vernunftglauben frontal ins Gesicht; (2) der europäische Kolonialismus strafte das aufgeklärte Ideal schon zu seiner Zeit hohntriefend Lügen; (3) ein ständig zunehmender und immer rücksichtsloserer Konsumismus wurde in seiner Schädlichkeit nicht nur zum Vorbild auch anderer Teile der Welt, sondern ist mittlerweile hauptverantwortlich für den drohenden Kollaps der gesamten irdischen Biosphäre. (4) Obendrein entpuppt sich das Ideal der demokratischen Selbstgestaltung einer Gesellschaft für viele Leute als faktischer Stillstand der Politik plus überbordender Bürokratie.

Im Vergleich - um nicht zu sagen: der Konfrontation - mit anderen Kulturräumen der Welt, vor allem dem chinesischen, zeigt sich hier in der Tat gleich ein ganzes Bündel großer Nachteile. Wenn sich das europäisch-aufgeklärte Publikum heute wundert, wieso weltweit die Autokratien nicht nur an Zuspruch gewinnen, sondern uns, den Europäern, performativ sogar überlegen scheinen, drängen sich dafür leider recht handfeste Erklärungen auf. Heißt das nun, dass wir, die nach wie vor Aufklärungsgläubigen, aufgeben sollten, gar freiwillig den großen Gabentisch unserer Ideale, d.h. der bürgerlichen Freiheit, des Rechtsstaates und eines sozial- und umweltverträglichen Wohlstands, räumen und jenem rücksichtslosen Nihilismus nachgeben sollten, der uns mittlerweile nicht nur aus den bekannten Autokratien der Welt, sondern sogar mit geradezu atemberaubender Wucht aus den USA entgegenschlägt? Ich denke, nicht.

Korrektur der Strategie, nicht des Ziels

Aus der Sicht des Verfassers dieses Essays liegt das wesentliche Problem nicht in dem tatsächlich sehr hoch gesteckten Ziel des aufgeklärten Menschenbildes und gesellschaftlichen Ideals. Es liegt in dem bereits benannten Irrtum zu glauben, dass der Mensch 'eigentlich' identisch mit diesem Ideal sei, wenn man ihn nur von aller Unterdrückung befreie und gleichzeitig genügend bilde. So einfach ist es nicht, das hat die Geschichte inzwischen bewiesen. Wir müssen der kulturellen Evolution - um einmal diesen anspruchsvollen Begriff zu gebrauchen - mehr Zeit einräumen. Die Entwicklung der Menschheit auf ein kollektiv und für die gesamte Biosphäre verträglicheres Leben hin verläuft weder schnell noch linear. Wir brauchen also im doppelten Sinne Geduld, nämlich zeitlich und im Hinblick auf Rückschläge. Die UNO-Menschenrechtskonvention wurde auch erst im Jahr 1948 nach zwei Weltkriegen geschrieben, nicht vorher.

Und wir müssen uns besser schützen gegen ideologische Gewalttäter, die das, was Europa trotz aller Fehler vorzuweisen hat, nur verachten und die Uhr der mittlerweile globalen gesellschaftlichen Entwicklung in ein Zeitalter zurückdrehen wollen, in dem letztlich nur Gewalt herrschte, d.h. in eine Art asozialer Urzeit (die es tatsächlich wohl nie gab). Es gibt aber noch eine weitere Herausforderung, und zwar in Gestalt des schon seit über zweitausend Jahren im chinesischen Kulturraum herrschenden Menschenbildes. Dort hat man 'den Menschen' nämlich noch nie für überwiegend vernünftig gehalten, sondern vielmehr für ein Wesen, dass ständiger und schärfster Disziplinierung bedarf, um die Integrität der Gesellschaft nicht zu gefährden. Der Kern dieses Menschenbildes lautet, dass 'der Mensch' nur unter permanentem Zwang sozial sei; sobald dieser Zwang nachlasse, bräche soziales Chaos aus und allen gehe es schlechter. Diesem sehr pessimistischen Menschenbild stellte Europa vor zweihundertfünfzig Jahren ein wiederum deutlich zu optimistisches Bild entgegen. Daraus folgt aber nicht, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Aus westlicher Sicht folgt daraus lediglich, dass wir einen längeren Atem brauchen und unsere Ideale nicht aus den Augen verlieren dürfen. Wir können uns ihm am Ende doch, wenn auch nur ganz langsam anzunähern. Wenn das Menschenbild der Aufklärung als keine blanke Schimäre ist, sondern seiner Erfüllung nur in einer noch ziemlich weiten Entfernung liegt, dann können wir weiter an einen Menschen glauben, der durchaus nämlich gut sein will, es aber derzeit noch nicht schafft. EIn unverwirklichtes Ideal ist noch lange kein unmögliches.

Noch einmal zu China

Gerade im Vergleich zu China ergibt sich hieraus ein interessantes Argument. Die Behauptung, das chinesische Menschen- und Weltverständnis sei dem westlichen überlegen, hält nämlich nur solange, wie man davon ausgeht, dass der Vergleich dieser beiden Gesellschaftssysteme unter Zugrundelegung derselben Vergleichskriterien vollzogen wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn wenn man den Standpunkt hinsichtlich des Welt- und Menschenbildes der Aufklärung übernimmt, der hier skizziert wurde, dann ist das westliche Ideal eben keines mehr, das von einem bestimmten Wesen des Menschen ausgeht, sondern vielmehr von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen überzeugt ist. Das aber bedeutet , dass der wesentliche Unterschied zwischen dem entsprechenden chinesischen Welt- und Menschenbild und dem europäischen gar nicht der aktuell materielle oder inhaltlche ist, ob 'die Menschen' nun ihrem Wesen nach vernünftig bzw. sozial gut seien oder nicht, sondern ob der Mensch entwicklungsfähig sei (so der Westen) oder nicht (so China). Denn das chinesische Bild geht davon aus, dass das Wesen des Menschen in dieser Hinsicht ein für alle Mal so sei, dass man nur mit eiserner Überwachung und drakonischer staatlicher Disziplinierung einen Staat zusammenhalten könne. Tatsächlich wird aber niemand bestreiten können, dass die Menschheit sich tatsächlich entwickelt hat. Immerhin leben wir heute unter deutlich anderen Umständen als vor einigen tausend Jahren, geschweige denn vor einingen hunderttausend Jahren.

Wenn aber unbestreitbar ist, dass vielleicht nicht der einzelne Mensch, so doch zumindest die menschliche kollektive Sozialität entwicklungsfähig ist - und darum geht es hier - dann folgt hieraus, juristisch gesprochen, eine Umkehr der Beweislast. Dann nämlich muss die chinesische Kommunistische Partei beweisen, warum sie an diese Entwicklung nicht glaubt und den chinesischen Disziplinar- und Überwachungsstaat offenbar auf ewig aufrecht erhalten will. Der chinesische Vorwurf gegenüber dem Westen würde sich dann darauf reduzieren, dass die Ideale der Aufklärung zu hoch gegriffen und selbst im günstigen Entwicklungsfalle unerreichbar seien. So lautet das chinesische Kernargument der Ablehnung des westlichen Welt- und Menschenbildes aber nicht. Es besagt, dass dieses westliche Ideal am Wesen des Menschen grundsätzlich vorbeiginge. Diese Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Begründung und Güte der tatsächlich unvereinbaren Weltbilder verschafft dem Westen, wenn auch zunächst nur intellektuell, doch wieder erheblichen Freiraum der Argumentation und vielleicht auch ein Quentchen mehr Selbstvertrauen. (ws)

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