Demokratie als Lebensform

Viele Hände halten ein Schild:

Gemeinsam oder gar nicht

Nun auch Japan! Im Juli 2025 verliert die Liberaldemokratische Partei nach 70 Jahren ihre Mehrheit im Oberhaus, verdrängt durch zwei rechtspopulistische Parteien. Nach dem aktuellen Demokratieindex lebt 7,8 Prozent der Weltbevölkerung in vollständigen Demokratien.

Während die einen ihre regelbasierte Ordnung preisen, wenden sich andere von ihr ab. Doch nicht alle sind damit Antidemokraten. So bekennen sich die Ostdeutschen mehrheitlich zur Demokratie, obwohl sie mehrheitlich skeptisch gegenüber dem politischen System sind. China behauptet in seinem Weißbuch zur Demokratie, dass es undemokratisch sei, die zahllosen politischen Systeme der Welt nach einem einzigen Maßstab zu messen. Wer hat die Deutungshoheit über die Demokratie?

Die Demokratie ist für Aristoteles eine Staatsform, die zur Entartung neigt, sollte das Volk mit seinen Interessen das Gemeinwohl bestimmen. Das Misstrauen gegenüber dem Volk sitzt tief, wie sich in den Staatstheorien von Hobbes und Hume ebenso zeigt wie im politischen Denken der amerikanischen Gründungsväter. In dieser Tradition erhebt Hannah Arendt das politische Handeln über die Arbeit und das Herstellen, sodass die Welt des Politischen beginnt, wo die Sorge um das Überleben endet.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, bestimmt die deutsche Verfassung und wird vom Volke in Wahlen, durch Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Eine „Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Ziele, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“ nennt Schumpeter „Elitendemokratie“. Und Wendy Brown fragt Jahrzehnte später: „Wie ist es dazu gekommen, daß Menschen in Teilen der Welt, die seit langem unter dem Banner der Demokratie stehen, in keinerlei Hinsicht gemeinsam für die Gemeinschaft regieren?“

Viele Bürger in Deutschland fühlen sich von der Politik mit ihren Sorgen allein gelassen. Das politische Handeln kollidiert mit der Wirklichkeit. Die immanente Vernünftigkeit der demokratischen Ordnung offenbart sich längst nicht für alle. Immer mehr Bürger fühlen sich im öffentlichen Raum unsicher und orientierungslos. Von gestörten Beziehungen der Menschen zur Sozialwelt spricht der Soziologe Hartmut Rosa. Was die Demokratie noch zusammenhält, ist die Angst vor den Feinden der Demokratie. Im demokratischen Alltag gibt es nur noch ein „Dafür“ oder „Dagegen“. Wer von dem absoluten „Dafür“ abweicht, gerät schnell in die Ecke der Demokratieunfähigen. So gehen den Demokratien die Demokraten aus, wie der Rechtsruck weltweit zeigt.

Eine Erklärung ist, dass der freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen ausgeht, die er selbst nicht erfüllen kann. Doch vielleicht ist das Diktum falsch? Vielleicht muss die Demokratie von dem ausgehen, was sie hat: von Menschen, die nicht als Demokraten geboren werden, aber das Potenzial haben, sich zu Demokraten zu entwickeln. Denn in den menschlichen Lebensformen sind Egalität und Partizipation tief verwurzelt. Wir wissen um die kooperative Fähigkeit des Menschen und seinen freien Willen als Wesensmerkmal. Also denken wir die Demokratie vom Volk her, von den Menschen. Begreifen wir die Demokratie nicht als Ordnung, sondern als Beziehungen zwischen Menschen. Gehen wir nicht vom mündigen Bürger aus, sondern von Menschen, die ihre demokratische Mündigkeit lebenslang lernen. Denken wir die Demokratie nicht als Staatsform, sondern als Lebensform.
Die Demokratie als Lebensform ist ein Konzept des amerikanischen Pragmatismus. Die Impulse kommen aus dem Leben selbst. Vertreter des Pragmatismus blicken realistisch auf die Menschen und glauben zugleich an ihr Vernunftpotenzial. Die Demokratie als Lebensform besinnt sich auf die Natur des Menschen, der zu individuellem Wollen strebt und zum moralischen Wesen wird, wenn er seine Individualität durch die Individualität der anderen begreift. Diese Demokratie ist ein dialektischer Fortschrittsprozess, der fortwährend seine eigenen Voraussetzungen reproduziert.

Demokratische Lebensformen und politische Handlungsfähigkeit bedingen sich gegenseitig.

Als Handlungsanweisung hat John Dewey ein Bildungskonzept entwickelt. In einem lebenslangen Lernprozess lebt der Mensch die ständige Auseinandersetzung mit anderen und mit sich selbst, um immer wieder das individuelle Können und das allgemeine Dürfen in die Balance zu bringen. Die Demokratie als Lebensform folgt Regeln, die vereinbart und nicht verordnet sind, die nicht Verhalten fordern, sondern Handeln fördern. Diese Demokratie bewährt sich an ihren Problemen. Probleme bezogen auf Klima, Migration oder Rechtsruck werden nicht mit Gesetzen weggeregelt, sondern politisch handelnde Menschen bewältigen die Probleme in ihren alltäglichen Lebensformen: Sie verbessern ihren ökologischen Fußabdruck, leben in einer Nachbarschaft der Vielfalt und streiten mit Kultur. Längst handeln Kommunen über alle Parteigrenzen hinweg im Interesse ihrer Bürger. Eine neue Form des politischen Handelns sind Bürgerräte: Menschen bekommen Zeit und Raum, Wissen und Kompetenz, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Mit Stadtteilmüttern lernen Mütter aus unterschiedlichen Kulturen, das Alltagsleben zu meistern. Allen Beispielen ist gemeinsam, dass Menschen im alltäglichen Handeln - nicht nur im politischen - demokratische Kompetenzen und eine Akzeptanz für gemeinsame Lösungen entwickeln. Oder, um es mit Wendy Brown zu sagen, „…damit das Volk sich selbst regieren kann, muss es eine identifizierbare kollektive Einheit geben…“.

Es ist kein Zufall, dass die Idee der Demokratie als Lebensform im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den USA entsteht. Die amerikanische Industriegesellschaft wirft mit ihren gesellschaftlichen Umwälzungen ihre Schatten voraus. Die Amerikanische Revolution hat längst ihre „Kinder gefressen“. Doch überdauert hat eine philosophische Denkweise, die pragmatisch an Realitäten und realen Problemlösungen ausgerichtet ist. Andererseits ist der amerikanische Pragmatismus nicht losgelöst vom philosophischen und politischen Denken. So erinnert die demokratische Lebensform an die antike Lebensform „Sorge um sich selbst“, wo der Mensch in praktischen Übungen lebenslang die Reflexion und Entwicklung seines Selbst lernt - immer der Parrhesia verpflichtet. Die Erziehung des Menschen zur Vernunft und zur Freiheit ist der Kern der Aufklärung. Wie Menschen in sozialer Interaktion Identität und Selbstverständnis für politisches Handeln entwickeln, begründet Georg Herbert Meads mit seiner soziologischen Theorie des symbolischen Interaktionismus.

Der Mensch wird demokratiefähig, indem er Demokratie lebt und lernt und lebt. Ein Ort des Lernens ist die Schule. In Berliner Schulen sind soziales Lernen, Schülerparlament und Klassenrat verbindlich geregelt. Schulen entwickeln ein Konfliktmanagement mit Sozialarbeitern und Schulpsychologen, Konfliktlotsen und Mediatoren. Schüler und Schülerinnen holen sich Hilfe bei ihren Problemen und Konflikten. Sie lernen, dass Konflikte zum Leben gehören und ohne Gewalt zu lösen sind. Sie erfahren für das Leben, dass es ihnen gut geht, wenn es auch allen anderen gut geht.

Und dann treffen sie auf die Demokratie als Staatsform….

Der Mensch wird nicht als politisches Wesen geboren, das ist auch die Annahme von Oskar Negt. „Der politische Mensch“ entwickelt im politischen Handeln in alltäglichen Lebenszusammenhängen seine individuelle Urteilskraft. Diese Urteilskraft befähigt ihn, die Widersprüche der Welt zu begreifen und in wechselseitigen Beziehungen mit anderen zu lösen. So entwickelt sich in der demokratischen Lebensform ein handlungsfähiges Gemeinwesen, in dem die Selbstreflexion einer Gesellschaft zur orientierenden Kraft wird. Denn die reale Demokratie hat ihre Orientierung verloren. Auf radikale Umbrüche reagiert die Politik mit verengter Weltsicht und Aktionismus. Politischer Handlungsdruck verengt die Räume der Partizipation - ein Teufelskreis.

Die subjektive Orientierung der Menschen und das System der Institutionen entfernen sich. In der Demokratie vollziehen sich Wirklichkeitsspaltungen. Die Klage „res publica amissa“ eines Cicero formuliert Nida-Rümelin als Aufruf für einen Perspektivwechsel im Denken über Demokratie. Aus der Erkenntnis, dass es „kein Aggregationsverfahren (gibt), das gleichzeitig grundlegenden Anforderungen der Rationalität und dem genügt, was man gemeinhin mit Demokratie verbindet“, argumentiert Nida-Rümelin für eine Demokratie als Kooperation. Eine Kooperation im Sinne eines „Vertrauensspiels“, bei dem eine Person ihre Nutzenmaximierung für ein größeres Wünschenswertes zurückstellt, unter der Annahme, dass die anderen Personen ebenso handeln. Die Einsicht kommt mit den Erfahrungen eines guten Lebens.

Die Idee der Demokratie als Kooperation kommt nicht von ungefähr, wenn wir die Antwort bei Aristoteles finden, wo ein Staat aus dem „Bedürfnis des bloßen Lebens“ entsteht, aber „zur Erreichung eines guten Lebens“ besteht? Denken wir die Demokratie vom guten Leben her, wird Demokratie nach Wendy Brown zu einen fortwährenden politischen Projekt. Darum kann das hier Gedachte nur ein Anfang sein, die Demokratie neu zu leben. (rt)

Frühere Leitartikel

Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

In der Frage, die der Titel dieses kleinen Essays ist, steckt bereits in Teil der Antwort, wenn auch vielleicht nur ein kleiner Teil. Auf jeden Fall ist uns, den Menschen, bisher kein Tier bekannt, das imstande ist, eine solche Frage zu stellen. Und damit sind wir bereits mitten im Problem.

Schon seit knapp einhundert Jahren bemüht sich die seinerzeit noch junge Verhaltenspsychologie, mit naturwissenschaftlicher Methodik beispielsweise herauszufinden, ob man bestimmten, kognitiv sehr entwickelten Tieren das Sprechen beibringen kann. 'Sprechen' muss hier nicht unbedingt bedeuten, akustische Sprachlaute produzieren zu können. Der Ausdruck meint eher, sich in sprachartiger Form verständigen zu können, z.B. durch Tippen auf Geräten, die sprachartige Konstrukte erzeugen. Sprechen hat offenbar viel mit Denken zu tun. Folglich verschob sich die Frage, was Menschen von Tieren unterscheidet, recht schnell auf die Frage, ob Tiere denken können. Diese Frage stellte sich jedoch als zu unpräzise heraus, weil viele Tiere offensichtlich zu komplexen Denkoperationen einschließlich Werkzeugproduktion und Lösungen von Problemen mittels Versuch und Irrtum imstande sind, und dennoch unendlich weit vom menschlichen Umgang mit der Welt entfernt zu sein scheinen.

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Wenn die Zeit stehenbleibt

Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Zeit gerade das ist, was NICHT stillstehen kann. Ob das stimmt, hängt aber gerade davon ab, ob man sie nicht auch anders verstehen kann.

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Die Sehnsucht der Blume nach der Blüte

Aristoteles war die erste Person der westlichen Hemisphäre, der den vermutlich schon viel älteren Gedanken ausarbeitete, dass alles, was es gibt, vom Streben auf ein inneres Bestimmungsziel hin angetrieben sei. Dieser mächtige Gedanke konnte selbst aus der heutigen Evolutionstheorie nicht ganz ausgetrieben werden, obwohl zumindest die physische und biologische Evolution theoretisch als reines Zufallsereignis beschrieben werden. Doch was ist Zufall? Und wer soll all die Ziele erfunden haben, auf die angeblich jeder Gegenstand der Welt und die Welt als Ganzes hinstreben?

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Was heißt 'Frieden'?

Der gemeinsame, soziale Frieden ist ein hohes Gut. Es wäre allerdings ein Fehler, ihn lediglich mit eiem Zustand der Gewaltlosigkeit zu verwechseln. Zwar ist das Verstummen der Waffen das äußerlich wichtigste Zeichen eines Friedens, insbesondere nach einem Krieg. Der einfache Verzicht auf Gewalt kann aber keinen Frieden begründen, wenn zuvor Unfrieden herrschte, z.B. als Krieg oder permanent hin und her wogende Blutrache. Was aber begründet dann einen Frieden?

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Weibliche Schönheit

Der folgende Text versucht zu erklären, warum das Ideal weiblicher Schönheit ein uraltes, biologisch begründetes Zeichen für die soziale Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft zunächst biologischer Männer, heute indessen unter die Herrschaft gesellschaftlich-struktureller Männlichkeit ist.

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Fühlen & spüren

Spüren und fühlen mögen oberflächlich so klingen, als ginge es dabei um dasselbe. Das ist jedoch nicht der Fall, wie der folgende Beitrag erklärt. Im Gegenteil, ihr Unterschied ist so groß, dass er sogar eine gesellschaftliche Bedeutung hat, besonders in Gesellschaften, deren Mitglieder so versessen auf ihre Individualität sind, wie dies im globalen Westen der der Fall ist.

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Mut, Courage

Als eine sehr geschätzte menschliche Tugend sind Mut und Courage inhaltlich einander eng verwandt. Ihr praktischer Einsatz könnte aber nicht weiter auseinander liegen. Während Mut traditionell vor allem eher mit dem körperlichen Einsatz in gefährlichen Situationen assoziiert wird, beispielsweise im Militär, aber auch im unternehmerischen Bereich und im Sport, ist die (insbesondere zivile) Courage eher ein moralisch konnotierter Wert. Nun kann man fragen, ob es allgemeine Kriterien gibt, nach denen sich der Sinn und das Maß für mutiges und/oder couragiertes Verhalten beurteilen lässt. Ich meine, dass dies tatsächlich bestimmbar ist.

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Gehorsam

Wenn es ein Wort gibt, an dessen Bedeutungswandel sich der Wandel der Zeiten zumindest in Deutschland ablesen lässt, dann ist es das Wort 'Gehorsam'. Bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs (und dann noch einmal und noch extremer unter den Nazis) war der Spruch "Gehorsam, Treue, Tapferkeit ist Deutschlands Söhnen Ehrenkleid" common sense. Heute hat 'Gehorsam' bestenfalls noch in religiösen Zusammenhängen gegenüber dem jeweiligen Gott einen positiven Klang, der aber auch ständig blasser wird. Darüber hinaus verbinden wir mit 'Gehorsam' eher Bedeutungen wie 'Unterwerfung', 'Zwang', 'Fremdbestimmung', 'Tyrannei', 'Strafe' und ähnliches. Was aber lässt sich jenseits solcher weltanschaulichen Moden über den Gehorsam sagen?

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Identitätswahn contra Menschenrechte

Der nationalistische Identitätswahn, der insbesondere in autoritären Staaten wie Russland und China, gepflegt wird, ist nicht nur eine Bedrohung für den Weltfrieden. Denn die Führungskader solcher Staaten sehen jegliche Art von Aggression durch die Brille ihrer Identitätsnarrative als gerechtfertigt an. Solche Selbstbeschreibungen sind mit dem Konzept der Allgemeinen Menschenrechte unvereinbar. Der Artikel stellt den ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen zwei modernen Fassungen beider Richtungen her, nämlich zwischen dem faschistischen Menschenbild von Carl Schmitt und der modernen Konzeption der Menschenrechte, wie sie in vielen Dokumenten bereits völkerrechtlich verbrieft ist.

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Ja, was ist denn mit Pi los?

Für die Kreiszahl Pi wurde in den letzte Tagen durch einen Supercomputer bei Goolge die Hundertbillionste Nachkommastelle errechnet, siehe hier. Es ist eine 2, leider.  Warum das ein Problem sein könnte, erfahren Sie hier.

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