Was ist Nihilismus?

 

Einem Titanen fällt die Weltkugel von der Schulter

Wenn die Last zu schwer wird...

Umso länger und beschwerlicher eine Reise ist, desto wichtiger werden befestigte und ausgebaute Wege, die einen sicheren Tritt gewähren. Umso zerklüfteter und einsamer die Landschaft sich vor den Augen erstreckt, desto sehnsüchtiger wird am Horizont ein Fixpunkt gesucht, der Orientierung und Führung bietet. Umso tiefer sich die Kluft zur Seite des Weges in die Tiefe öffnet, desto kräftiger klammert sich die Hand um verschraubte Griffe, welche den Weg leiten, um sich in Sicherheit zu wiegen. Und welche Reise ist schon länger und gefährlicher als das Leben selbst?

Das Leben braucht Halt. Es bedarf einer Stütze, die die Last des Daseins Atlas gleich zu tragen, in der Lage ist. Das Leben, welches zwischen Himmel und Erde wirkt, benötigt die steinernen Schultern des Titanen, um das Himmelszelt zu halten, sodass die Sterne am Firmament blinzeln und jeden Winkel der Erde beleuchten können. Die Erde ist ein finsterer Ort - sie ist einsam und kalt. Erst mittels der Sterne erstrahlt das irdische Seiende und lässt das Licht zwischen diesem pulsieren und aufleben, sodass es sich von Seiendem zu Seiendem reflektiert. Das Licht füllt jede Faser des Seienden mit Wert und Bedeutung. Es durchleuchtet und durchzieht einem Spinnennetz gleich jeden Bereich des Seienden und dessen filigrane Fäden bewegen, beleben und erheben jedes Stück Materie, um ihm einen Wert einzuverleiben. Dieser Wert kann nicht in der kontingenten phänomenal-erlebbaren Welt liegen, da jede Tatsache wiederum nur auf eine andere Tatsache verweist, sodass dieser Verweisungszusammenhang zu keinem Abschluss käme. Der Sinn verlöre sich bloß in einer ewigen Kaskade gegenseitiger Beziehungen oder er würde gar leer bleiben, weil alles von allem zehrte, ohne Nahrung zu bieten. Hieraus entfaltet sich der Glaube an die Notwendigkeit eines absoluten Wertes; einer Wahrheit, die dem zufälligen Nexus des Erlebten enthoben ist, sodass sich transitiv der Sinn von jenem zu diesem fortpflanzen könne. Das Handeln hat Sinn, nicht weil es auf konkrete Umstände, Gedanken oder Handlungen verweist - denn diese unterliegen demselben Begründungsdilemma -, sondern weil eine Quelle alle Flüsse, worin sich das Erlebbare ergießt, speist.

Was bleibt, wenn diese Quelle versiegt, dieser Wert zertrümmert, und dieser Götze zerstört ist? Was bleibt, wenn der Glaube an die absolute Wahrheit zerbricht, die Moral ausgehöhlt ist, und die Sitten zur bloßen Tradition verkommen? Was bleibt, wenn der archimedische Punkt gelöst ist, Atlas Kräfte schwinden, und Gott stirbt? Es wird nichts sein mit dem Seienden und die Rede ist nicht von jenem oder diesem Seienden - der Blick richtet sich auf kein Vereinzeltes - stattdessen ist das Seiende als Ganzes nichts. Es tritt keine neue Wahrheit an die Stelle der Alten, auch werden sich keine neuen moralischen Werte ausbilden, weil die platonische Idee der Wahrheit und die transzendente, moralische Wertsetzung verneint werden. Und der Nihilismus ist aus dem Schoß dieser tragischen Leere geboren; einer Kulturwelt, die gewillt ist, ihre Götter zu töten, aber nicht bereit, diese Tat zu ertragen. Die Risse und Brüche der alten Welt sind erkannt und werden schonungslos offengelegt, anstatt sie mit fahler Farbe zu übermalen, aber es gibt noch keine neue Welt, welche die Zerschlagene ersetzen könnte. Dies skizziert bereits die konstruktive Rolle eines Nihilismus, der seine Selbstaufhebung erwartet.

Der Nihilismus erschöpft sich in keiner Profanisierung der Ideologie. Auch diese vermag das Vakuum nicht zu füllen: Wird Gott durch Vernunft und Vernunft durch Wissenschaft ersetzt, aber am Glauben an ein festes Fundament, worauf sich das Wissensgebäude stützt, festgehalten, ändert sich bloß die Maske, hinter der sich die Idee der absoluten Wahrheit verbirgt. Dagegen sieht der Nihilismus die Trümmer dieses Fundaments, und hat zugleich das Bewusstsein, das kein Neues gelegt werden könne, weil es aus einem Stoff gebaut war, welchen es nicht (mehr) gibt.

So bleibt die Angst vor dem gähnenden Abgrund, welcher zu verschlingen droht, was ist. Aber was ist, ist nichts und nichts heißt: Die alten Denkgewohnheiten sind unfruchtbar, an ihnen werden keine neuen Erkenntnisse reifen. Die genutzten Werkzeuge sind unbrauchbar; sie werden zu Artefakten einer unverstandenen Zivilisation - sie haben keine Verwendung. Und die bekannten Lösungswege verlieren sich in Labyrinthen, die sich in alle Richtungen winden, ohne auf ein Ziel hinzulaufen. (Josua Faller)

Frühere Leitartikel

Platon on the run

Seit dem Aufstieg so genannter Populisten in vielen Ländern der Welt fragt sich das erschütterte andersdenkende Publikum, wie der Aufstieg z.B. eines Donald Trump, der überraschende Ausgang des Brexit-Votums und der Machtzuwachs aggressiv-nationalistischer Politiker vom Schlage Recep Tayyip Erdoğans oder Jarosław Kaczyńskis möglich waren. Eine der naheliegendsten, wenn auch wohl unzureichenden Erklärungen macht die angeblich zunehmenden wirtschaftlichen Verwerfungen in den betroffenen Ländern dafür verantwortlich. Tatsächlich ist die Situation in den vielen betroffenen Ländern jedoch sehr unterschiedlich; nicht einmal bei der Mehrheit von Ihnen passt das ökonomische Erklärungsmuster.

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Politische Vernunft

Es zeigt sich im Ergebnis vieler Studien in der gesamten westlichen Welt immer wieder, dass das konkrete Wahlverhalten des Publikums häufig keineswegs dem Ideal einer rationalen, gar vernünftigen Entscheidung genügt. Eines der Wesensmerkmale der Idee der Demokratie ist jedoch nicht einfach, dass Menschen über ihre Regierung abstimmen, sondern dass sie dies im Bewusstsein ihrer und der gesamten gesellschaftlichen Situation tun und ihre Stimme nach begründbaren, soll heißen: rationalen und vernünftigen Kriterien abgeben. Der folgende Beitrag will nicht erkunden, was als 'rational' und 'vernünftig' gelten kann, wohl aber, was hier sicher nicht rational und noch viel weniger vernünftig ist.

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Gerechtigkeit und (Un-)Gleichheit

Der Begriff der Gerechtigkeit ist unscharf. Klassisch wird zwischen (materieller) Verteilungsgerechtigkeit, (politischer) Teilhabegerechtigkeit und (moralischer) Strafgerechtigkeit unterschieden, ergänzt um die weitere Dimension möglicher und tatsächlicher Gerechtigkeit (aka Chancen- bzw. Ergebnisgerechtigkeit). Regelmäßig geringe Beachtung findet im Diskurs über Gerechtigkeit hingegen der Umstand, dass Gerechtigkeit keineswegs nur auf den Ausgleich von Unterschieden in ihren jeweiligen Sparten abzielt. So wird der Begriff der Gerechtigkeit heute zwar meistens behandelt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies in früheren Zeiten keineswegs ein analytischer (selbstverständlicher) Bestandteil des Gerechtigkeitsbegriffs war, noch wird heute in gebührender Weise darüber nachgedacht, ob Gerechtigkeit nicht gleichermaßen mit der Ungleichheit wie mit der Gleichheit von Menschen verknüpft ist.

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Herrschaft wird prekär

Die heutige, kommunikativ stark globalisierte Welt ist horizontalen und vertikalen Wechselwirkungen ausgesetzt, die früher deutlich schwächer waren. Dies wirkt sich insbesondere als eine Verschärfung des Herrschaftsdiskurses auf den vier Ebenen zwischenstaatlicher Hegemonie, innerstaatlicher politischer Herrschaft, ökonomischer Weisungsmacht und den Rollenkonflikten zwischen den Geschlechtern aus. Die beiden Hauptstrategien zur Teilnahme an dem allgemeinen Herrschaftsdiskurs kann man als 'radikal' bzw. 'reformorientiert' kennzeichnen. Beide Herangehensweisen haben ihre Vorteile. Die Reformstrategie ist aber grundsätzlich verantwortungsvoller und deshalb ethisch überlegen.

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Hegel, dieser nonkonformistische Nerd

Über die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist wahrlich viel geschrieben worden, nicht zuletzt und besonders wirkungsmächtig von Karl Marx und Friedrich Engels. Dennoch verdient eine seiner besonders geheimnisumwitterten Denkmethoden noch weitere Aufmerksamkeit - nicht zuletzt, weil sie letztlich nur von wenigen Menschen verstanden wurde. Dabei ist sie auch heute noch äußerst relevant.

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Gerechtigkeit

Der Begriff der Gerechtigkeit gehört zum Empfindlichsten, was das Inventar einer jeglichen Auffassung von Gesellschaft umfasst. Viel ist darüber geschrieben worden. Doch nur wenige Meinungen dazu schauen über den Tellerrand ihrer jeweils aktuellen ideologischen und historischen Gegebenheiten hinaus. Dieser Beitrag versucht, hinter das Dickicht angeblicher Wahrheiten und ideologischer Ansprüche zu gelangen. Dort wartet eine erstaunlich einfache Empfehlung zur Lösung eines sehr alten Problems.

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Der Mensch lebt nicht von Macht allein

Eines der ältesten Ideologeme betreffend die Handlungsmotivation des Menschen behauptet, es sei hauptsächlich das Streben nach Macht, was ihn antreibe. Derlei Behauptungen und Theorien sind in vielerlei Hinsicht verdächtig. Es genügt bereits einfaches Nachdenken und eine Durchmusterung der eigenen Lebenserfahrung, um zumindest einige andere Aspekte ins Spiel zu bringen, die den Absolutheitsanspruch des Selbsterhaltungs- bzw. Machtstrebens vom seinem ideologischen Sockel zu stoßen.

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Eigenwert

Menschliches Handeln kann in vieler Hinsicht wertvoll oder auch wertlos sein. Im katholischen Europa galt öffentlich bis zur Reformation die einfache Formel: Gut ist, was den jeweiligen säkularen Herrschern nützt oder den Vorgaben der katholischen Heilslehre entspricht; alles andere ist schlecht. Mit der Reformation änderte sich dies jedoch drastisch. Mit der calvinistischen Prädestinationslehre drängte ein Ideologem in der Vordergrund, das bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt hatte: der Erfolg auf Erden als Hinweis auf die Chance, nach dem irdischen Leben ins Paradies zu kommen.

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Wahrheit und Revolution

Es gibt empfindliche Wörter. Das vielleicht sensibelste von allen, und dies keineswegs nur im Deutschen, ist vermutlich jenes der Wahrheit. Denn die Unterscheidung zwischen wahr und falsch - und zwar nicht etwa logisch oder formal, sondern im Alltag - gehört zu den sozial relevantesten überhaupt.

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Demokratie als Maxime kollektiver Urteilsfähigkeit

Das Jahr 2016 war für die Idee der Demokratie kein gutes. Viele Menschen verloren das Vertrauen in sie. Man kann es ihnen nicht verdenken: Von den aggressiven Despoten bis hin zu den populistischen Dummköpfen konnten auf der ganzen Welt Menschen Wahlsiege einfahren bzw. ihre bestehende Macht stärken, von denen ein großer Teil der übrigen Menschen unserer Welt meint, sie hätten dies besser nicht erreichen sollen. Die Frage ist, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen.

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