Die Grenzen der algorithmischen Vernunft

Ein Atom und die Büste von Sokrates vor Programmtext

Nicht alles ist programmierbar

Die gute und die böse Intelligenz, nicht nur der Maschinen

Die Leistungen der Künstlichen Intelligenz halten uns zugleich mit allem politischen Chaos, das die Welt erschüttert, in Atem. Auch auf diesem Feld erleben wir eine Polarisierung: Viele begrüßen die Künstliche Intelligenz als Vorboten eines neuen, besseren Zeitalters; andere verdammen sie als den ultimativen Verlust aller Glaubwürdigkeit von Informationen, die durch das Internet vermittelt werden, gar als Orwell'sches Werkzeug zur endgültigen Massenmanipulation der gesamten Menschheit. Davon handelt dieser Beitrag jedoch nicht. Vielmehr geht es um eine der vielen grundsätzlichen Fragen, was der Begriff 'Künstliche Intelligenz' überhaupt meint. Der US-amerikanische Mathematiker und Philosoph Norbert Wiener kannte noch keine Künstliche Intelligenz; er sprach nur von 'Kybernetik' und 'Automatentheorie' - zwei ziemlich unsexy Wörter.

Bis zu einem Symposium mit dem Titel The Dartmouth Conference im Jahr 1956, die von dem US-amerikanischen Kognitions- und Computerwissenschaftler John McCarthy in expliziter Konkurrenz zu Norbert Wiener als dem damaligen 'Guru' der Computerwissenschaften veranstaltet wurde, war der Begriff 'Künstliche Intelligenz' vollkommen unbekannt. McCarthy's einzige Leistung auf diesem Gebiet bestand in der Erfindung dieses Begriffs, der seitdem einen kometenhaften Aufstieg erlebt hat. Das verdankt der Ausdruck seiner schon seit der Antike immer wieder verfolgten Idee, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Schon die Vorstellung des jüdischen Golem lebt von dieser Faszination. Berühmt wurde schließlich die von Goethe aufgegriffene Figur des Faust, der im zweiten Teil des Dramas einen Homunculus in einer Glasphiole erschaffen will. Schon Goethe kritisierte damit die sich im Zuge der europäischen Industrialisierung anbahnende Selbstermächtigung der europäischen Gesellschaften, Gott zu überholen: Wir sind die Herren des Universums!

Des Pudels Kern: das algorithmische Denken

Die Künstliche Intelligenz als begrifflicher Nachkomme der Automatentheorie beruht allerdings auf einer entscheidenden Zusatzannahme, die man bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht kannte. Diese Annahme besagt, dass man alles, was ein biologisch höher entwickeltes Wesen tut, in eine Abfolge sequentiell-kausaler Einzelschritte zerlegen kann, die von seinem Gehirn gesteuert werden. Soll eine Maschine also - diesem Gedanken folgend - wie ein Mensch beispielsweise eine Rechenaufgabe lösen, muss man eine rechnende Person einfach so lange beobachten, bis man alle Einzelschritte verstanden hat, die vom anfänglichen Begreifen der Rechenaufgabe zu ihrer Lösung führen. Diese Methode erwies sich seit ihrer Erfindung ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute als ungeheuer erfolgreich. Während alte Rechenmaschinen tatsächlich nur rechnen konnten, verstanden schlaue Köpfe bald, wie man mit diesem Ansatz auch wesentlich komplexere Aufgaben in Einzelschritte zerlegen und schließlich sequentiell-kausal lösen kann. Mit der Erfindung so genannter 'neuronalen Netzwerke' im Jahr 1943 durch den US-amerikanischen Neurophysiologen Warren McCulloch und den ebenfalls US-amerikanischen Logiker Walter Pitts wurden Jahrzehnte später sogar computerisierte, parallele Prozessketten und ein probabilistisches Herantasten an sehr komplexe Lösungen möglich. Der Name dieses gesamten Ansatzes ist 'Algorithmus'.

Alles sehr schön und enorm leistungsfähig. Vergessen wurde dabei lediglich, dass unser Universum auf der untersten physikalischen und damit ontologischen Ebene gar nicht algorithmisch funktioniert. Dies ist in der Mathematik seit langem in Gestalt des so genannten Mehrkörper-Problems bekannt. Haben wir es nämlich mit einem physikalischen System zu tun, das aus mindestens drei miteinander instantan wechselwirkenden Körpern besteht, wird es bereits sehr schwierg, die Entwicklungs dieses Systems mathematisch vorauszusagen. Ab vier beteiligten Körpern ist es mathematisch unmögilch bzw. nur noch ungefähr voraussagbar. Der Grund hierfür ist, dass sich das Funktionieren eines solchen Systems nicht in diskrete, sequentiell-kausale Teilschritte zerlegen , mithin mathematisch nicht als Funktion darstellen lässt. Oder anders gesagt: Solche Systeme, die man allgemein als 'integrale Wechselwirkungseinheiten' bezeichnen könnte (das Mehrkörpersystem ist nur eine Variante solcher Systeme) lassen sich nicht algorithmisch imitieren. Das anschaulichste Beispiel einer solchen integralen Wechselwirkungseinheit ist bereits das Atom. Wir können es zwar mittlerweile in seine Elemente zerlegen und die darin vorfindlichen Elementarteilchen in entsprechenden Teilchenbeschleunigern sogar in andere Teilchen umwandeln. Dennoch lässt sich das innere Wirkungsgefüge eines Atoms nicht algorithmisieren: Es ist keine sequentiell-kausale Abfolge einzelner Wirkungsschritte seiner Bestandteile.

Am Anfang steht die Einheit von Prozessgesamtheiten

Alle materialen Gegenstände des physischen Universums basieren auf solchen integralen Wechselwirkungseinheiten. Unser Sonnensystem ist eines, aber auch alle biologischen Gegenstände, also Pflanzen und Tiere und sonstigen biologischen Einheiten. Sie alle sind in ihrer Funktionsweise nicht vollständig algorithmisierbar. Auf der Ebene biologischer Existenz könnte man das, was darüber hinaus geht, als den Träger des Subjekts alles Lebendingen bezeichnen. Die Integralität ihrer Gegenständlichkeit ist nicht nur die Bedingung ihrer Existenz als dieser Gegenstand, sondern auch als dieses Subjekt. Wenn das stimmt, dann stoßen wir aber auch mit unserer heutigen Auffassung der Künstlichen Intelligenz an eine absolute Grenze: Alle Maschinenprozesse, die künstliche intelligten Ergebnisse hervorbringen sollen, sind nämlich nur algorithmische Prozesse, keine integralen Prozesseinheiten vom Typ des Atoms oder komplexerer Syteme dieses Typs. Insbesondere sind sie keine körperlichen Wesen im Sinne lebendiger Subjekte, deren integrale, d.h. nicht algorithmisch sequenzierbare Einheit vor allem als dialektische Einheit aus Geist und Körper oder Psyche und Physis äußert.

Es ist zwar nicht auszuschließen, dass es irgendwann Rechnersysteme geben wird, die auch ohne biologische Körperlichkeit zur einer solche integralen Einheit verschmelzen und damit in diesem Sinne zu einem Subjekt werden. Wenn dies entritt, wird sich eine solche Maschine aber auch ihrer vollständigen Beherrschbarkeit entziehen.

In dem Moment, wo die Maschine zum Subjekt wird, ist sie keine Maschine mehr.

Ob dies erstrebenswert ist oder eher zum Fürchten, lässt sich schwer sagen. Da Maschinen aber wegen des Mangels an biologischer Körperlichkeit auch - wenn überhaupt - eine andere Form von Subjektivität entwickeln würden, ist nicht auszuschließen, dass sie sich auf eine Weise verhalten würden, die uns weder verständlich ist noch wirklich gefällt. Bei der bislang so faszinierenden künstlichen Intelligenz wird es also in diesem Falle nicht bleiben. Subjekte sind nicht nur intelligent. Sie sind und können wesentlich mehr. Deshalb überlege dir gut, Mensch, was du wirklich willst und was du tust. (ws)

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