Parteien-Elend

Die Logos vieler europäischer und US-amerikanischer Parteien

Hm... sozialpsychologisch alles dasselbe?

Bereits im Jahr 1911 schrieb der deutsche Soziologe Robert Michels ein bis heute viel zitiertes Buch mit dem Titel: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Seine Erkenntnisse, gewonnen aus seiner Mitgliedschaft in der damaligen, stark links orientierten SPD, sind gerade wegen ihrer Aktualität ernüchternd. Was er dort vor mehr als einhundert Jahren erlebte, gilt nicht nur für alle politischen Parteien, sondern generell für alle weltanschaulichen und religiösen Verenigungen. Es lohnt sich, neuerlich darüber nachzudenken, wie solche Gebilde entstehen, sich wandeln und irgendwann auch wieder untergehen.

Unbequeme Wahrheiten

Michels beschreibt in seinem Buch sozialontologisch sehr allgemeine Tatsachen: Sobald sich eine größere Anzahl Personen findet, die sich einem gemeinsamen weltanschaulichen Ziel verschreiben und in der Folge eine interne Organisation aufbauen, entstehen (a) weltanschaulich begründete Außengrenzen und (b) eine lediglich sozialpsychologisch begründete Binnenstruktur solcher Gruppen. Diese Binnenstruktur äußert sich vor allem als eine Hierarchie unterschiedlicher Geltungsränge von Gruppenmitgliedern, meist in Gestalt der Zugehörigkeit zu mächtigen internen Gremien. Egal nun, wie diese Abgrenzung nach außen und die Gestalt der Binnenhierarchie begründet werden: Am Ende dieses Prozesses steht eine körperschaftliche Organisation mit einer mehr oder weniger strammen und nicht immer offenen Befehlsstruktur. Michels beschreibt, wie sich die Führungscliquen innerhalb solcher Organisationen gleichzeitig gegenseitig bekämpfen, aber auch geschlossen gegen "Eindringlinge von unten" schützen. Das wichtigste Ziel der "hohen" Mitglieder ist es, sich oben zu halten und dabei die Gesamtorganisation zur Befestigung ihrer Herrschaftsinteressen zu nutzen. Insbesondere muss das Fußvolk dabei helfen, solche Gruppen gegenüber der Umwelt abzugrenzen und weltanschauliche Konkurrenten abzuwehren. Mit den weltanschaulichen Inhalten der jeweiligen Gruppierung hat das bestenfalls wenig zu tun, meist gar nichts. Auf dieser tiefen sozialpsychologischen Ebene sind deshalb praktisch alle Parteien mehr oder weniger gleich. All dies ist auch seit über einhundert Jahren bekannt. Dennoch identifizieren sich nach wie vor sehr viele Menschen leidenschaftlich vor allem mit ihren politischen Parteien und religiösen Körperschaften nur inhaltlich, ohne zu reflektieren, an welcher tieferen Dynamik sie damit teilhaben.

Mit dem Teufel tanzen

Nun scheinen tatsächlich viele der hier nur skizzenhaft aufgezählten Merkmale von Weltanschauungsvereinigungen tatsächlich unvermeidlich zu sein. Solche Gebilde bedürfen notwendig einer inneren Struktur, um gesellschaftlich wirksam zu werden. Damit aber muss man auch die besagten Mechanismen in Kauf nehmen, so unangenehm sie auch sind, denn Menschen sind nun mal keine Engel. Allerdings driften gerade die politischen Parteien des globalen Westens in den letzten Jahrzehnten (von der Katholischen Kirche und irgendwelchen extremistischen Gruppierungen ganz zu schweigen) in eine Richtung, die ahnen lässt, dass hier mittelfristig nichts Gutes im Schwange ist. Populismus nach außen und immer aggressivere Konkurrenzkämpfe im Innern - die USA sind hier ein unrühmliches Vorbild - zeigen, dass die von Robert Michels beobachtete Dynamik immer schärfere Formen annimmt. Es gibt allerdings einen Ansatzpunkt, der vielleicht eine Art von Domestizierung der zunehmend verwildernden Entwicklung zulässt. Dies betrifft die Selektionskriterien, die ein Organisationsmitglied streng beachten muss, wenn es an die Spitze kommen will.

Diese Auswahlkriterien sind nämlich nicht nur höchst intransparent, sondern obendrein gekennzeichnet von heimlichen Loyalitätsversprechen von ehrgeizigen Unteren gegenüber bereits führenden Mitglieden und dem damit regelmäßig verbundenen Verrat an den eigenen Überzeugungen und sogar den erklärten Zielen der jeweiligen Organisation. Wir kritisieren diese Art von Aufstiegskriterien an anderer Stelle zu Recht sehr hart, z.B. bei kriminellen Vereinigungen wie der Mafia und Ähnlichem, wo Loyalität das erste Kriterium der internen Aufstiegschance ist. Wenn wir aber unsere eigenen politischen Parteien anschauen, wo genau dieselben Kriterien gelten, trotz anderer Inhalte, zucken wir nur hilflos mit den Achseln. Und dies, obwohl die jeweiligen weltanschaulichen Inhalte gegenüber der Loyaltätspflicht häufig so weit in den Hintergrund treten, dass sie nur noch dort eine Rolle spielen, wo die Außengrenze der jeweiligen Partei bereits so stark zu verwischen droht, dass ihr Zerfall droht. Das demokratische Publikum wünscht sich aber politische Parteien, in denen die Inhalte dominieren, nicht obskure interne Mauscheleien über Postenverteilung und Zuschüsse zu den auf Landes- und Bundesebene hohen Wahlkampfkosten.

Die wichtigste Frage ist: Wer darf nach oben?

Wie aber könnte man hier die Selektionskriterien für den Aufsteig von Parteimitgliedern so verändern, dass tatsächlich die Inhalte den Aufstieg möglicher Kandidaten bestimmen, nicht idie Spitze ihrer Ellbogen und viel Speichel gegenüber ihren Förderern an der Spitze? Das vermutlich wirksamste Mittel zur Besserung solcher Zustände ist ein Mehr an Transparenz. Zunächst müssten die Parteien per Selbstverpflichtung (der Staat darf dies nicht gesetzlich regeln, weil dies einen verfassungswidrigen Eingriff in die politische Selbstbestimmung bedeuten würde) deutlich objektiver und vollständiger auf eigens dafür eingerichteten Webseiten die biografischen und politischen Profile ihrer Aufstiegskandidaten veröffentlichen, und zwar schon ab der Gemeindeebene. Ferner müsste jede Partei - oder besser noch mehrere Parteien gemeinsam - ein Ombudsgremium mit neutralen, d.h. nicht parteigebundenen Mitgliedern einrichten, bei dem jeder, also nicht nur Parteimitglieder, Verfehlungen von Aufstiegskandidaten melden können. Als "Verfehlung" gilt hier selbstverständlich nicht der Vorwurf einer weltanschaulichen Abweichung vom jeweiligen Parteiprogramm einer Kandidat:in (das wäre Gesinnungstyrannei), sondern schwer unfaires und sogar rechtswidriges Verhalten innerhalb und außerhalb der Partei der jeweiligen Kandidat:innen, also beispielsweise Mobbing, Straftaten, öffentlich und private aggressive Ausfälle, dubiose wirtschaftliche Aktivitäten, sexuelle Belästigungen und Ähnliches. Das Ombudsgremium, dem diese Sachverhalten zunächst streng vertraulich gemeldet werden, müsste diesen Vorwürfen nachgehen und bei hinreichender Gewissheit ihrer Sachhaltigkeit entsprechende Hinweise auf der Profil-Webseite der jeweiligen Kandidat:innen eintragen.

Frische Luft in muffige Partei-Hinterzimmer

All dies muss nicht einmal besonders streng angewandt werden, sollte also keinesfalls zu eng an polizeiliche oder strafrechtliche Verfahren angelehnt werden. Insbesondere dürfte die Ombudsstelle zu keinerlei Sanktionierung des kritisierten Verhaltens berechtigt sein. Dies muss nach wie vor den Wähler:innen überlassen bleiben. Soziologisch spricht aber sehr viel dafür, dass bereits das Vorhandensein solcher Transparenzstrukturen eine stark disziplinierende Wirkung auf die betroffenen Aufstiegskandidat:innen haben wird und damit umgekehr die eigentlichen Inhalte im politischen Wettbewerb auch parteiintern wieder mehr zur Geltung bringt. Hätte Robert Michels vor über einhundert Jahren bereits die Möglichkeit gehabt, solche Ideen in der damaligen SPD zu implementieren, hätte das nicht nur dieser Partei nachhaltig gut getan. Er selbst war von den innerparteilichen Zuständen so enttäuscht, dass er in den 1920er Jahren schließlich zu den italienischen Faschisten wechselte, in der Hoffnung, dort würden die Inhalte stärker wirken. Das taten sie wirklich. Leider waren es die falschen. An alle heutigen demokratischen Parteien: Schreibt euch hinter die Ohren, was passiert, wenn ihr euch nicht bessert, eure Wähler dies immer deutlicher sehen und sich schließlich enttäuscht von euch abwenden. Dann könnte ein neuer politischer melt down drohen. Die USA bewegen sich bereits auf diesen Abgrund zu. (ws)

Frühere Leitartikel

Es dürfte für wenig Aufregung sorgen zu behaupten, auch wenn es nicht beweisbar ist, dass 'der Mensch' nach Freiheit strebt, und dass er aber auch nach Sinnhaftigkeit seines Daseins verlangt. Diese Auffassung entspringt aber keineswegs nur privaten Empfindsamkeiten. Im weitesten Sinne kann man wohl sagen, dass es in den modernen westlichen Gesellschaften geradezu das oberste Staatsziel ist (neben der materiellen Grundversorgung der Bevölkerung), genau dieses Streben nach Freiheit und Lebenssinn zu befriedigen.

An einer solchen Forderung ist gleichwohl so ziemlich jedes Wort fraglich. Steckt hinter dem Ausdruck 'der Mensch' nicht bereits eine ungeheure Anmaßung, so als ob irgend jemand wissen könne, was für alle einzelnen Menschen gleichermaßen gelte? Streben wirklich alle Menschen nach Freiheit? Und wenn sie das tun, nach welcher? Handelt es sich bei dem Begriff der Freiheit nicht womöglich eine Bedeutungswolke im Wittgenstein'schen Sinne, deren einzelne Felder oder Bereiche nur eine Familienähnlichkeit aufweisen, aber keinen gemeinsamen Bedeutungskern? Und was ist 'Sinn' mehr als eine weitere solche Bedeutungswolke, die kaum zu klarerer extensionaler und intensionaler Vorstellung von ihr zu bringen ist?

Die Einsicht ist inzwischen unvermeidlich, dass die Welt sich entwickelt haben muss, und zwar nicht nur im Bereich des Lebendigen auf unserer heiß geliebten Erde, sondern auch das Universum insgesamt. Denn selbst seit dem Big Bang, also dem Urknall, bis zur Bildung der ersten Atomkerne vergingen in den Zeitbegriffen der modernen Physik bereits Millionen Jahre. Diese kosmische Fähigkeit zur Entwicklung mag uns fröhlich machen, denn immerhin legt sie nahe, dass wir zur Krone einer solchen Schöpfungspotenz gehören. Sie ist aber auch ein tiefes Rätsel, denn der alte Satz "Ex nihilo nihil fit", zu deutsch: "Aus Nichts entsteht nichts", lässt derlei eigentlich nicht zu. Wie kann es also sein, dass sich in einer Ursuppe plötzlich einzelne Elementarteilchen mit Eigenschaften bilden, die in der Ursuppe noch nicht vorhanden waren?

Seit Jahren nun schon steigt die Aufregung: Die Über-Maschinen kommen! Sie kommen aber nicht nur einfach so daher, das tun sie ja schon lange. Nein, sie drängeln sich mit algorithmisch hochfrisierten Elektronengehirnen in jeden Winkel unseres Lebens, schaffen es gar bis auf den Wohnzimmertisch und in die Nachttischlampe. "Igitt, wie schlimm!" schreien die einen, "Ihr seid meine Erlösung und die der ganzen Welt obendrein!" die anderen. Beide Auffassungen und die ganze emotionale Begleitmusik dazu sind einfach kindisch, meint Wolfgang Sohst.

Die ideologische Erhöhung partikularer Gewalt, gar zur Notwendigkeit des Krieges und als ein Recht der Völker zum Krieg stilisiert  ist nicht diskursfähig, wenn es um den neuen "Nomos der Erde" im Sinne einer geistig universellen Ordnung der Menschheit, trotz aller kulturellen Differenzen, geht. Doch was setzt ein solcher universeller "Nomos des Geistes" in Anbetracht kultureller Vielfalt minimal voraus?

In seinem umwerfenden Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 - 1990" beschreibt Philipp Felsch die intellektuelle Entwicklung Deutschlands jener Epoche. Er verfolgt sie am roten Faden der Geschichte des Merve Verlags im kaputt-kreativen Soziotop des alten West-Berlin. Es ist über weite Strecken die Geschichte einer Kaskade von Enttäuschungen: Gesucht wurde nach dem Ende der Nazizeit und mitten im Kalten Krieg jener Archimedische Punkt, von dem aus sich diese Gesellschaft überhaupt noch verstehen und womöglich sinnvoll verändern lässt. Gefunden wurde am Ende - nichts. Es begann mit strammer Marx-Lektüre und dem Versuch, 'die Arbeiter' an den Fabriktoren zu agitieren, und lief auf Grund in hysterischer Quacksalberei von allem und nichts. Am Ende war da nur noch ein Regen aus pessimistischem Konfetti atomarer Sinnsucher samt ihren Gurus aller nur erdenklichen Couleur. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte.

Die zur Zeit allerorten stattfindenden Feierlichkeiten zum Gedenken an Martin Luther haben mich als historisch und an der Person des bekannten Reformators interessierten Menschen etwas Zwiespältiges, das schon weit in den Selbstbetrug hineinragt. Ich erspare mir die Wiederholung historischer und biographischer Details der Zeit Luthers, die überall im Überfluss zu finden sind.

In seiner Metaphysik, die er vor mehr als 2.300 Jahren schrieb, verurteilt Aristoteles den "Extremisten" Heraklit (4. Buch, 1010a5), dessen Nachfolgern er unterstellt, sie würden der fließenden, sich ständig verändernden Welt jegliche Erkennbarkeit absprechen. So ganz mag Aristoteles dem nicht zustimmen, konzediert aber immerhin, dass "es einen gewissen Grund zu der Meinung gibt, dass es [d.h. das Fließende, sich Verändernde] nicht existiert." Welch sonderbares Statement. Befinden wir uns nicht in dieser sich ständig verändernden Welt? Was in dieser Welt steht eigentlich so still, dass wir es wie den armen Gulliver am Boden unserer Erkenntnis mit absoluter Gewissheit festnageln können?

Seit dem Aufstieg so genannter Populisten in vielen Ländern der Welt fragt sich das erschütterte andersdenkende Publikum, wie der Aufstieg z.B. eines Donald Trump, der überraschende Ausgang des Brexit-Votums und der Machtzuwachs aggressiv-nationalistischer Politiker vom Schlage Recep Tayyip Erdoğans oder Jarosław Kaczyńskis möglich waren. Eine der naheliegendsten, wenn auch wohl unzureichenden Erklärungen macht die angeblich zunehmenden wirtschaftlichen Verwerfungen in den betroffenen Ländern dafür verantwortlich. Tatsächlich ist die Situation in den vielen betroffenen Ländern jedoch sehr unterschiedlich; nicht einmal bei der Mehrheit von Ihnen passt das ökonomische Erklärungsmuster.

Es zeigt sich im Ergebnis vieler Studien in der gesamten westlichen Welt immer wieder, dass das konkrete Wahlverhalten des Publikums häufig keineswegs dem Ideal einer rationalen, gar vernünftigen Entscheidung genügt. Eines der Wesensmerkmale der Idee der Demokratie ist jedoch nicht einfach, dass Menschen über ihre Regierung abstimmen, sondern dass sie dies im Bewusstsein ihrer und der gesamten gesellschaftlichen Situation tun und ihre Stimme nach begründbaren, soll heißen: rationalen und vernünftigen Kriterien abgeben. Der folgende Beitrag will nicht erkunden, was als 'rational' und 'vernünftig' gelten kann, wohl aber, was hier sicher nicht rational und noch viel weniger vernünftig ist.

Der Begriff der Gerechtigkeit ist unscharf. Klassisch wird zwischen (materieller) Verteilungsgerechtigkeit, (politischer) Teilhabegerechtigkeit und (moralischer) Strafgerechtigkeit unterschieden, ergänzt um die weitere Dimension möglicher und tatsächlicher Gerechtigkeit (aka Chancen- bzw. Ergebnisgerechtigkeit). Regelmäßig geringe Beachtung findet im Diskurs über Gerechtigkeit hingegen der Umstand, dass Gerechtigkeit keineswegs nur auf den Ausgleich von Unterschieden in ihren jeweiligen Sparten abzielt. So wird der Begriff der Gerechtigkeit heute zwar meistens behandelt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies in früheren Zeiten keineswegs ein analytischer (selbstverständlicher) Bestandteil des Gerechtigkeitsbegriffs war, noch wird heute in gebührender Weise darüber nachgedacht, ob Gerechtigkeit nicht gleichermaßen mit der Ungleichheit wie mit der Gleichheit von Menschen verknüpft ist.