Die künstliche Gesellschaft

Viele Menschen stehen vor einer Gruppe künstlicher Personen

Die Simulation nicht des einzelnen Menschen, sondern ganzer menschlicher Gesellschaften

Am Anfang stand der Mensch im Streit mit Gott

Beginnen wir ganz von vorne. Mit der Konsolidierung des Christentums im Hochmittelalter, also ab dem 11. Jahrhundert, amalgamierte diese Religion aus ihren Wurzeln des alten jüdischen Glaubens an einen allmächtigen Gott mit dem altgriechischen, recht nüchternen Logos, d.h. einem Weltverhältnis, das sich von jeglicher transzendenten Autorität abwandte und sein Heil im eigenen, rationalen Denkvermögen des Menschen suchte: Jesus, der existenzielle Heilsbringer, auf der einen Seite und das intelligente Philosophenpärchen Platon und Aristoteles auf der anderen waren nunmehr die antagonistischen Pole dieses Glaubens. Schon die alten Israeliten lagen allerdings mit ihrem Gott, trotz seiner unangefochtenen Autorität, in ständigem Hader und teilweise offenem Streit. Der griechische Einfluss wendete dieses Spannungsverhältnis über die beiden folgenden Jahrtausende schließlich zur offenen Konkurrenz des abendländischen Menschen mit seinem Gott. Im Zeitalter der europäischen Aufklärung, also dem 18. Jahrhundert, machte sich das intellektuelle Europa endgültig daran, den christlichen Gott zu entwaffnen und ihn schließlich ideologisch ganz zu entsorgen. Diesen Prozess nennen wir heute 'Säkularisierung'.

Die Sache hatte jedoch einen Haken. Die Schöpfungsallmacht erst des jüdischen und später des christlichen Gottes war nämlich so cool und faszinierend, dass man den Gedanken daran nicht einfach aufgeben wollte. Weil aber die ewige, letztlich eingebildete Konkurrenz mit diesem Gott nunmehr gewonnen schien, wollte das aufgeklärte, mittlerweile technisch und industriell hochgerüstete Europa die Sache nunmehr selbst in die Hand nehmen. Und weil das verrückte Verhältnis zwischen Mensch und Gott ohnehin schon immer ein Katz-und-Maus-Spiel der alten Europäer mit ihren eigenen Vorstellungen von Weltherrschaft und sozialer Ordnung war, wollte man jetzt selbst Schöpfer spielen: Wir sind Gott. Die ultimative christliche Schöpfungsidee war die Schaffung des Menschen als Mittler zwischen Welt und Gott, so jedenfalls steht es in den ersten Kapiteln des Alten Testaments. Mit dessen radikalem Glaubwürdigkeitsverlust richteten sich fortan immer mehr Energien auf die Erschaffung eines homunculus, d.h. eines künstlichen Menschen. Erst wenn das geschafft sei, so die Idee im Hinterstübchen des ehemals christlichen Denkens, hätte der Mensch sich wirklich jener ultimativen Potenz bemächtigt, die vorher nur seinem Gott zukam. Schon Goethe ahnte im Faust, dass hier etwas Ungeheuerliches am Werke ist: Der Mensch will sich selbst als künstliches Ebenbild erschaffen. Der Gott hat seine Schuldigkeit getan, der Gott kann gehen.

Das große Ding: Die ultimative, kollektive Selbstermächtigung

Inzwischen sind wir, nunmehr ein großer Teil der Menschheit, auf dieser Strecke ein gutes Stück vorangekommen. Die Idee des künstlichen Menschen war offenbar ansteckend, sogar in so christusfernen Gegenden wie Ostasien. Die so genannte Künstliche Intelligenz mittlerweile schreitet von Triumph zu Triumph, und (fast) nichts scheint sie mehr aufzuhalten. Abgesehen davon, dass schon eine kleine Fruchtfliege mit ihren lächerlichen 140.000 Neuronen Dinge kann, die jede Künstliche Intelligenz nach wie vor zum Schwitzen bringen - und das mit einem Millionstel des Energieaufwandes der logischen Maschinen - schaffen es diese modernen homunculi doch immerhin, sich im Gespräch mit echten Menschen als ebensolche darzustellen und schlagen damit allen Beschwörern der angeblichen Einzigartigkeit 'des Menschen' ein freches Schnippchen.

Seit der Veröffentlichung so genannter Large language models und deren Fähigkeit, künstliche mediale Inhalte von bisher unbekannter Qualität zu erzeugen, befindet sich die gesamte industrialisierte Welt in einer Art Rausch: Endlich scheint das alte, verrückte Ziel, sich selbst zum allmächtigen Gott krönen zu dürfen, erreicht zu sein. Der Advent dieses Triumphs ist allerdings von gemischten Gefühlen des Publikums begleitet. Was machen wir da eigentlich? Ist diese ultimative Selbstermächtigung ein Segen oder ein Fluch? Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden. Etwas anderes ist aber auffällig.

Der Künstlichen Intelligenz fehlt das 'Wir'

Aufgrund der dargestellten kulturellen Wurzeln jener kuriosen Selbstkonkurrenz, unbedingt zum gottgleichen Schöpfer von sich selbst - sprich: 'des Menschen' - zu werden, hat sich die moderne, technoide Menschheit darauf versteift, nur den einzelnen Menschen nachzubauen. Und selbst diese Bemühung beschränkt sich auf ganz bestimmte kognitive Fähigkeiten biologischer Menschen, insbesondere das Rechnen und Erzeugen medialer Inhalte. Wenn Maschinen darüber hinaus anfangen, ihren Nutzern Liebeserklärungen zu machen, führt das eher zu einem Stirnrunzeln. Auf Liebeserklärungen möchten wir zwar ungern verzichten. Mit einer Maschine im Bett zu liegen ist dagegen ultimativ unsexy.

Der Mangel im System dieses Denkens liegt in der Konzentration aller Bemühungen um Künstliche Intelligenz auf das menschliche Individuum. Das mag für kognitive Höchstleistungen der richtige Ansatz sein, ist aber doch eine sehr beschränkte Perspektive. Denn das Besondere an der menschlichen Existenz ist nicht das einzelne Exemplar seiner Gattung, sondern die gemeinsame Leistung, mittels derer wir imstande sind, immer imposantere Kulturen und einen exponentiell wachsenden Wissensfundus aufzubauen. Warum also nicht in eine künstliche Gesellschaft investieren? Nun... mir ist schon klar, dass sich die Milliardäre und geldsatten Tech-Unternehmen dieser Welt am Kopf kratzen und fragen werden, was diese Idee soll. Kann man damit noch mehr Geld verdienen? Schwer zu sagen; vielleicht schon. Wenn man aber beginnen würde, in die Simulation menschlicher Gesellschaften einzusteigen, dann würde man noch vor allen Gewinnhoffnungen erst einmal merken, wie weit der gegenwärtige Stand der Künstlichen Intelligenz von dem entfernt ist, was unsere menschliche Existenz tatsächlich ausmacht. Menschliche Gesellschaften bestehen nämlich aus enorm unterschiedlichen Charakteren mit denkbar verschiedensten Biografien, Fähigkeiten, Sorgen, Mängeln und Wünschen. Superhirne sind darunter sehr selten. Der Nutzen, nicht einzelne Übermenschen mit Mega-Hirnen, sondern ganze Gesellschaften zu simulieren, würde folglich ganz anders ausschauen, Dann nämlich würde erst die kulturelle Evolution der Menschheit in den Blick geraten, und man würde beginnen, sich Gedanken darüber zu machen, wie aus dieser ziemlich ins Schlingern geratenen Spezies am Ende doch noch etwas werden kann, was mehr ist als unendliche Bereicherungsgier und Selbstzerstörungswut. Hallo?... Hallo??... Ist da jemand, der das Geld und die Lust hätte, sich dieser Idee anzunehmen? (ws)

Frühere Leitartikel

Gestalten der Wahrheit

Die Wahrheit insbsonderer öffentlicher Aussagen ist heutzutage mehr denn je schweren Angriffen ausgesetzt, und dies bis auf die höchste Ebene weltpolitischer Auseinandersetzungen. Derlei häufig sehr verantwortungsloses Verhalten nutzt eine Schwachstelle menschlicher Orientierung und Kommunikation aus, die sich leider nicht einfach dadurch beheben lässt, dass man ihr Verhalten missbilligt. Der folgende Text weist auf analytische Werkzeuge hin, die in Streitigkeiten um die Wahrheit von Aussagen bei der Klärung helfen können.

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'Soziale Identität': Aufstieg einer Chimäre

Seit einigen Jahren, parallel zum Aufstieg des weltweit aktuellen Populismus, ist nicht nur in den sog. westlichen Ländern wieder verstärkt davon die Rede, dass der soziale Mensch einer ‚Identität‘ bedürfe. Ohne diese sei nicht nur sie/er psychisch angeblich orientierungslos, sondern auch der Zusammenhalt eines jeden sozialen Kollektivs hänge davon ab. Im Gegensatz zum modernen Nationalismus, während dessen Entstehung im 19. Jahrhundert das Konzept ‚soziale Identität‘, wenn auch nicht unter diesem Namen, erzeugt wurde, ist die heutige Berufung auf die angebliche Notwendigkeit sozialer Identität zwar immer noch stark mit der Vorstellung einer homogenen Nation verbunden, dies aber nicht mehr ausschließlich. Stattdessen und in gewisser Weise noch ungreifbarer ist heute, wenn nicht ganz platt von ethnischer Herkunftsgemeinschaft, stattdessen beispielsweise von ‚Wertegemeinschaft‘ und Ähnlichem die Rede. Wie historisch jung all solche Begrifflichkeit ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass bei zwei der wichtigsten Gründerfiguren der modernen Soziologie, Max Weber und Émile Durkheim, von ‚sozialer Identität‘ noch keine Rede ist. Das ist nicht erstaunlich, insofern der Begriff ‚Identität‘ ursprünglich nur im logischen Aussagenzusammenhang gebraucht wurde und dort auch eine deutlich längere Geschichte hat als in der politischen Auseinandersetzung.

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Die Demokratie und der Teufel

Seit Kant hat der Teufel einen neuen oder zumindest zweiten Namen: Unvernunft. Sie zeigt sich in verschiedenen Formen, z.B. der einfachen Unwissenheit, des unüberlegten Affekhandelns, der Übertreibung und maßlosen Eitelkeit. Mit all diesen Subteufeln ist die erstarkende Pflanze der Demokratie nach 1945 gut zurechtgekommen. Die weltweite Gemeinde der Vernünftigen war immer klar in Führung, gab den Ton an und setzte sich selbst in solchen Großkonflikten wie jenem zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion letztlich durch. Wie kommt es, dass ihr jüngst mit rasender Geschwindigkeit so viele Mitglieder abhanden kommen, dass wir womöglich sogar mit einer Machtübernahme der rasend Unvernünftigen rechnen müssen?

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Was ist ursprünglicher: Qualität oder Quantität?

Zu den nicht gerade dringendsten Fragen unserer Zeit gehören metaphysische Grundprobleme. Deren gibt es in allen Kulturen und Gesellschaften nicht wenige. Weil leider die meisten von ihnen trotz Jahrhunderte langer Behandlung immer noch nicht eindeutig beantwortet wird, verlieren viele Menschen schnell das Interesse daran. Ich wende mich hier nun an diejenigen Untentwegten, die sich bisher nicht haben abschrecken lassen. Es geht im Folgenden um etwas sehr Grundsätzliches. Die Frage lautet: Was ist ontologisch vorgängig, die Qualität oder die Quantität (von Dingen, Prozessen oder was auch immer)?

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Künstliche Unvernunft

Im aktuellen Heft des Economist (Heft vom 21.04.2018, S. 14 oder online hier) wird berichtet, dass die Techniker von IKEA unter großem Aufwand es geschafft haben, einen Roboter so zu programmieren, dass er einen IKEA-Stuhl zusammenbauen kann. Oh Mann! Er braucht dafür allerdings 20 Minuten und somit ein Mehrfaches der Zeit, die ein durchschnittlich begabter Mensch für die Aufgabe benötigt. Auch Tesla, so wird berichtet, schafft seine Produktionsversprechen nicht, weil Elon Musk sich mit der Automatisierbarkeit im Autobau immer wieder massiv verschätzt. Inzwischen gibt er es sogar öffentlich zu. Irgendetwas stimmt nicht mit der Künstlichen Intelligenz.

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Freiheitssehnsucht und Lebenssinn

Es dürfte für wenig Aufregung sorgen zu behaupten, auch wenn es nicht beweisbar ist, dass 'der Mensch' nach Freiheit strebt, und dass er aber auch nach Sinnhaftigkeit seines Daseins verlangt. Diese Auffassung entspringt aber keineswegs nur privaten Empfindsamkeiten. Im weitesten Sinne kann man wohl sagen, dass es in den modernen westlichen Gesellschaften geradezu das oberste Staatsziel ist (neben der materiellen Grundversorgung der Bevölkerung), genau dieses Streben nach Freiheit und Lebenssinn zu befriedigen.

An einer solchen Forderung ist gleichwohl so ziemlich jedes Wort fraglich. Steckt hinter dem Ausdruck 'der Mensch' nicht bereits eine ungeheure Anmaßung, so als ob irgend jemand wissen könne, was für alle einzelnen Menschen gleichermaßen gelte? Streben wirklich alle Menschen nach Freiheit? Und wenn sie das tun, nach welcher? Handelt es sich bei dem Begriff der Freiheit nicht womöglich eine Bedeutungswolke im Wittgenstein'schen Sinne, deren einzelne Felder oder Bereiche nur eine Familienähnlichkeit aufweisen, aber keinen gemeinsamen Bedeutungskern? Und was ist 'Sinn' mehr als eine weitere solche Bedeutungswolke, die kaum zu klarerer extensionaler und intensionaler Vorstellung von ihr zu bringen ist?

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Emergenz: Hoppla, was ist denn das?

Die Einsicht ist inzwischen unvermeidlich, dass die Welt sich entwickelt haben muss, und zwar nicht nur im Bereich des Lebendigen auf unserer heiß geliebten Erde, sondern auch das Universum insgesamt. Denn selbst seit dem Big Bang, also dem Urknall, bis zur Bildung der ersten Atomkerne vergingen in den Zeitbegriffen der modernen Physik bereits Millionen Jahre. Diese kosmische Fähigkeit zur Entwicklung mag uns fröhlich machen, denn immerhin legt sie nahe, dass wir zur Krone einer solchen Schöpfungspotenz gehören. Sie ist aber auch ein tiefes Rätsel, denn der alte Satz "Ex nihilo nihil fit", zu deutsch: "Aus Nichts entsteht nichts", lässt derlei eigentlich nicht zu. Wie kann es also sein, dass sich in einer Ursuppe plötzlich einzelne Elementarteilchen mit Eigenschaften bilden, die in der Ursuppe noch nicht vorhanden waren?

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Der seltsame Hype um die Künstliche Intelligenz

Seit Jahren nun schon steigt die Aufregung: Die Über-Maschinen kommen! Sie kommen aber nicht nur einfach so daher, das tun sie ja schon lange. Nein, sie drängeln sich mit algorithmisch hochfrisierten Elektronengehirnen in jeden Winkel unseres Lebens, schaffen es gar bis auf den Wohnzimmertisch und in die Nachttischlampe. "Igitt, wie schlimm!" schreien die einen, "Ihr seid meine Erlösung und die der ganzen Welt obendrein!" die anderen. Beide Auffassungen und die ganze emotionale Begleitmusik dazu sind einfach kindisch, meint Wolfgang Sohst.

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Der Nomos des Geistes

Die ideologische Erhöhung partikularer Gewalt, gar zur Notwendigkeit des Krieges und als ein Recht der Völker zum Krieg stilisiert  ist nicht diskursfähig, wenn es um den neuen "Nomos der Erde" im Sinne einer geistig universellen Ordnung der Menschheit, trotz aller kulturellen Differenzen, geht. Doch was setzt ein solcher universeller "Nomos des Geistes" in Anbetracht kultureller Vielfalt minimal voraus?

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Der diskrete Charm der Theorie

In seinem umwerfenden Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 - 1990" beschreibt Philipp Felsch die intellektuelle Entwicklung Deutschlands jener Epoche. Er verfolgt sie am roten Faden der Geschichte des Merve Verlags im kaputt-kreativen Soziotop des alten West-Berlin. Es ist über weite Strecken die Geschichte einer Kaskade von Enttäuschungen: Gesucht wurde nach dem Ende der Nazizeit und mitten im Kalten Krieg jener Archimedische Punkt, von dem aus sich diese Gesellschaft überhaupt noch verstehen und womöglich sinnvoll verändern lässt. Gefunden wurde am Ende - nichts. Es begann mit strammer Marx-Lektüre und dem Versuch, 'die Arbeiter' an den Fabriktoren zu agitieren, und lief auf Grund in hysterischer Quacksalberei von allem und nichts. Am Ende war da nur noch ein Regen aus pessimistischem Konfetti atomarer Sinnsucher samt ihren Gurus aller nur erdenklichen Couleur. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte.

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