Alles wird gut

Ja. Wirklich alles.

Der obige Satz "Alles wird gut" drückt keine künftige Tatsache aus. Er beschreibt eine Einstellung. Und Einstellungen können Tatsachen schaffen. Das nennt man eine 'self-fulfilling prophecy'. Aber eigentlich ist der obige Satz nicht einmal die Beschreibung einer konkreten Einstellung. Er ist eher die Aufforderung zur Überprüfung der eigenen Einstellung.

Unsere Zeit - wobei 'unsere' inzwischen die gesamte Menschheit meint - ist keine optimistische, und dafür gibt es gute Gründe. Die Weltordnung versinkt stetig tiefer in Totalitarismus und zunehmender Gewalt. Politischer Wahnsinn, wie er sich inzwischen auch in den USA breitmacht, steht neben denkbar rücksichtslosester militärischer Gewalt im russischen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine oder nunmehr auch im Sudan. Neben unzähligen weiteren Diktaturen in aller Welt steigt derweil in Ostasien wie ein riesiges, extraterrestriches Raumschiff der leuchtende Stern einer chinesischen Supermacht auf. Deren perfektionierte Methoden der Überwachung und Bestrafung von Gesinnungsabweichlern sind genauso alarmierend wie ihre wirtschaftliche Leistungskraft aufsehenerregend ist. Das Resultat dieser Entwicklung ist unter anderem, dass man die Startseiten der großen Nachrichtenportale nur noch in Erwartung neuer Katastrophennachrichten öffnen kann.

Narbengewebe

Das macht etwas mit uns, und zwar etwas sehr Ernstes. Es schüchtert uns ein, produziert eine generelle Weltangst, die weit über die aktuelle Gefahrenherde hinausgeht. Verschiedene Kulturen der Menschheit befanden sich schon früher in diesem erbarmungswürdigen Zustand. Insbesondere das christliche Mittelalter war eine zutiefst verängstigte Epoche infolge der überall herrschenden Willkür und Gewalt, periodisch über den Kontinent hinwegrasender Pestepidemien und einer Religion, die alles Diesseitige ohne Wenn und Aber verdammte. Sex war des Teufels, gewerblicher Fleiß und damit einhergehender wirtschaftlicher Erfolg betrugsverdächtig, Andersgläubige wurden massiv diskriminiert und Frauen und leibeigene Bauern sowie Sklaven wie Sachen behandelt. Speziell Frauen wurde gerade am Ende des Mittelalters, d.h. mit dem Anbruch der Neuzeit, obendrein zu Tausenden lebendig verbrannt, weil sie angeblich etwas mit dem Teufel hatten. Aber auch in anderen Kulturen ging es nicht sanfter zu. Die zur Zeit des europäischen Mittelalters in Mittelamerika herrschenden Azteken töteten bei rituellen Anlässen Tausende Gefangener, indem sie ihnen bei vollem Bewusstsein das Herz herausrissen, und im neu entstandenen chinesischen Reich der Jahre 221 ff. vor unserer Zeitrechnung unter der Chin-Dynastie herrschte eine Bestrafungsobsession, deren Grausamkeit selten von anderen Kulturen übertroffen worden sein dürfte. Von den Millionen Juden und anderen Opfern eines extremen Rassismus und Sozialdarwinismus, die während der Nazizeit nach ihrer Tötung in Gaskammern und industriellen Brennöfen wie Ungeziefer vernichtet wurden, gar nicht zu sprechen.

Dagegen schaut es in der heutigen Welt vergleichsweise zahm aus. Wir sollten uns allerdings nicht mit dem Schlimmsten vergleichen, was Menschen einander antun können. Umgekehrt hat es allerdings auch wenig Sinn, vor dem neuen Gewalt- und Herrschaftswahn, der sich derzeit auf der ganzen Welt ausbreitet, einfach die Augen zu verschließen. Was uns die Medien täglich bieten, ist leider bittere Wirklichkeit. Und es hilft auch nicht, in die christliche Metaphysik zurückzufallen, die uns bei entsprechend gottgefälliger Lebensführung zumindest nach dem Tode die Erlösung im himmlischen Paradies verspricht. Wer's glaubt, wird nicht selig, sondern hat nicht richtig nachgedacht.

Selbstheilung heißt...

Wie aber können wir dann dem fast unvermeidlichen Trauma entkommen, dass derartige Großereignisse in unseren Köpfen anrichten? Nun, wir müssen offenbar lernen, zumindest an das langfristig Gute zu glauben, auch wenn es offenbar keinen Gott gibt, der das für uns besorgt. Anderslautende Beteuerungen christlicher Würdenträger haben sich leider als haltlose Illusion entpuppt, gelegentlich auch als bequemes Mittel einer unverschämten Bereicherung eben jenes Klerus, der uns anderntags erzählt, wie sündig und schlecht wir allesamt sind. All das führt nur zu noch mehr Stress, zumal konkurrierende Religionen mit ganz anderen Göttern, Vorschriften, Drohungen und Missbräuchen ebenso obsessiv aufwarten. Vergessen wir das endlich. Sinnvoller wäre es, über neue Formen politische und sozialer Ordnung nachzudenken, jenseits der ausgetretenen Klischees von Kommunismus, Kapitalismus & Co.

Worauf aber kann sich ein Glaube oder eine Hoffnung, dass am Ende doch noch alles gut wird, dann stützen? Ich denke, dass wir uns bescheiden, aber beharrrlich, auf unsere eigenen Kräfte zum vernünftigen Denken besinnen sollten. Das klingt ähnlich der bekannten kantischen Definition von 'Aufklärung', ist im Detail aber doch anders. Wir haben inzwischen nämlich gelernt, dass 'der Mensch' (a) keineswegs vernünftig ist, wenn man ihn nur in Ruhe lässt, sondern häufig gerade dann höchst aggressiv und asozial wird, und (b), dass es keine individuelle Schuld gibt, wenn jemand noch nicht im erleuchteten Zustand aufgeklärter Vernunft ist. Wir arbeiten vielmehr gerade an jenem Fortschritt, und das ist keine Sache, die sich im Handumdrehen erledigen lässt.

... die Nerven zu behalten

Es geht also nicht um den Glauben an irgendeinen Gott oder ein frei erfundenes, gar esoterisches Weltenschicksal, sondern um das Vertrauen in sich selbst und die eigene menschliche Umgebung. Das verhält es sich eigentlich nicht anders als mit dem Glauben z.B. an die eigenen Körperkräfte oder die eigene Gesundheit: Man muss etwas dafür tun. Das steigert wiederum erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass unser persönliches und gesellschaftliches Entwicklungsziel eines Tages wirklich wahr wird. "Alles wird gut" heißt, nicht den Mut zu verlieren. Und es heißt, selbst als Beispiel des Guten auftreten zu wollen - und dafür etwas zu tun. Bitte diese Aufforderung nicht mit missionarischem Überzeugungseifer verwechseln. Solche Leute sind total nervig. Nein; es geht tatsächlich darum, bei Sinnen zu bleiben, sich weder zu überschätzen noch in Depressionen zu verfallen und im entscheidenden Moment, nämlich dann, wenn um dich herum wirklich Verzweiflung ausbricht, die Nerven zu behalten. Gut nachdenken. Freundlich bleiben. Seine Wut mäßigen, wenn sie uns beim Einschlafen zu überwältigen droht. Am Tag denjenigen helfen, denen es psychisch nicht gut geht, weil sie an der Welt zerbrechen. Dann wird am Ende - sicherlich nicht morgen, vielleicht erst in Jahrhunderten, aber egal - tatsächlich alles gut. Oder zumindest ein bisschen besser, als es heute ist. (ws)

Frühere Leitartikel

Der Mensch lebt nicht von Macht allein

Eines der ältesten Ideologeme betreffend die Handlungsmotivation des Menschen behauptet, es sei hauptsächlich das Streben nach Macht, was ihn antreibe. Derlei Behauptungen und Theorien sind in vielerlei Hinsicht verdächtig. Es genügt bereits einfaches Nachdenken und eine Durchmusterung der eigenen Lebenserfahrung, um zumindest einige andere Aspekte ins Spiel zu bringen, die den Absolutheitsanspruch des Selbsterhaltungs- bzw. Machtstrebens vom seinem ideologischen Sockel zu stoßen.

Weiterlesen …

Eigenwert

Menschliches Handeln kann in vieler Hinsicht wertvoll oder auch wertlos sein. Im katholischen Europa galt öffentlich bis zur Reformation die einfache Formel: Gut ist, was den jeweiligen säkularen Herrschern nützt oder den Vorgaben der katholischen Heilslehre entspricht; alles andere ist schlecht. Mit der Reformation änderte sich dies jedoch drastisch. Mit der calvinistischen Prädestinationslehre drängte ein Ideologem in der Vordergrund, das bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt hatte: der Erfolg auf Erden als Hinweis auf die Chance, nach dem irdischen Leben ins Paradies zu kommen.

Weiterlesen …

Wahrheit und Revolution

Es gibt empfindliche Wörter. Das vielleicht sensibelste von allen, und dies keineswegs nur im Deutschen, ist vermutlich jenes der Wahrheit. Denn die Unterscheidung zwischen wahr und falsch - und zwar nicht etwa logisch oder formal, sondern im Alltag - gehört zu den sozial relevantesten überhaupt.

Weiterlesen …

Demokratie als Maxime kollektiver Urteilsfähigkeit

Das Jahr 2016 war für die Idee der Demokratie kein gutes. Viele Menschen verloren das Vertrauen in sie. Man kann es ihnen nicht verdenken: Von den aggressiven Despoten bis hin zu den populistischen Dummköpfen konnten auf der ganzen Welt Menschen Wahlsiege einfahren bzw. ihre bestehende Macht stärken, von denen ein großer Teil der übrigen Menschen unserer Welt meint, sie hätten dies besser nicht erreichen sollen. Die Frage ist, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen.

Weiterlesen …

Vernunft als Methode, nicht als Vorschrift

Es dürfte nur wenige Worte geben, die, selbst wenn sie im Alltag gar nicht so häufig gebraucht werden, eine größere Bedeutung für das westliche Selbstverständnis haben wie 'Vernunft'. Wir kennen den Ausdruck bereits aus unser aller Kindheit, wo die Eltern und Lehrer uns anhielten, doch bitte zur Vernunft zu kommen. Und wenn heute Politiker oder andere Menschen, die öffentlich auftreten, ihr Auditorium mit dem Argument beglücken, ihr Vorschlag sei einfach vernünftig im Gegensatz zu allen übrigen, so breitet sich nüchterner Ernst aus, zurückhaltend, ohne Witz - eben ultimativ vernünftig.

Weiterlesen …

Wut als letztes Mittel

Warum ist der Wutbürger gerade in denjenigen Ländern so stark vertreten, wo objektiv dazu eigentlich geringerer Anlass besteht als in anderen, sehr autoritär regierten Regionen dieser Welt? Die Antwort scheint in der Differenz zwischen politischem Versprechen und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu liegen.

Weiterlesen …

Die Aufrichtigkeit im Zeitalter technischer Lüge

Aufrichtigkeit als moralisch und praktisch hoch geschätztes Verhalten hat nie an Ansehen verloren - eigentlich. Schauen wir uns jedoch die öffentliche kommunikative Realität der heutigen Zeit an, hat man Eindruck, dass sie mehr denn je unter die Räder kommt. Ist dieser Eindruck richtig? Und falls nicht, was ist dann das Problem mit der Art und Weise, wie sich Menschen heute öffentlich äußern?

Weiterlesen …

Hauptsache Selbsterhaltung?

Nach Panajotis Kondylis (1943-1998) hat der Mensch letztlich nur ein grundlegendes Interesse: seine Selbsterhaltung (siehe sein Buch „Macht und Entscheidung“). Daraus folgen alle seine anderen Interessen – dabei und wieder vorrangig insbesondere das nach Machtsteigerung; denn mehr Macht bedeutet mehr Möglichkeiten der etwas komfortableren Selbsterhaltung bzw. Interessendurchsetzung. Harald Dietz hinterfragt die Plausibilität dieses wohlbekannten Menschenbildes.

Weiterlesen …

Religion: Vom kollektiven Identitätsstifter zur individuellen Ersatzdroge

Die Frage der Bedeutung der Religion für die Gesellschaft ist heute wieder in aller Munde - obwohl sie für die europäische Kultur doch längst entschieden zu sein schien. Die Trennung von Kirche und Staat, die Religionsfreiheit und die Dominanz des naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs schien unumstößlich eingetreten zu sein. Doch diese Gewissheit gilt nicht mehr - auch dies eine Folge der Globalisierung.

Weiterlesen …

Kollektive Identität

Der weltbekannte indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen kritisiert in seinem Buch "Die Identitätsfalle: Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" (dtv, 2010) die üblichen Identitätszuweisungen zu einzelnen Menschen z.B. als Moslems, Christen, Amerikaner, Deutsche etc. als viel zu grob und meint, dass hieraus schwere Konflikte entstehen. Seine Absichten sind zweifellos gut; seine Analyse ist jedoch leider untauglich.

Weiterlesen …