Das Ende der Zeit und das Nichts

Bild eines zerbrechenden, neogotischen Prunkgebäudes

Nichts ist für die Ewigkeit gebaut

Das Ende unserer subjektiven Zeiterfahrung ist das Ende der kollektiven Vorstellung vom Fortgang der Dinge, wie sie sich uns aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart darstellt. Wir haben gewöhnlich recht genaue Vorstellungen davon, was die kommende Zeit bringen wird, trotz aller Ungewissheiten, Wahrscheinlichkeiten und den daraus folgenden Möglichkeitsbündeln. Am Ende unseres Nachdenkens entscheiden wir uns regelmäßig für irgendeine Variante der uns vorstellbaren Zukunft. Wir meinen nicht nur zu wissen, wie es weitergeht, sondern auch, dass sich die Mühe des Weitergehens lohnt. Das Ende einer solchen Zeitlichkeit ist das Zerbrechen dieser Gewissheit. Es ist radikal, insofern es das Ende unserer Vorstellungskraft ist, wie es weitergehen wird, d.h. eine absolute Überforderung unserer kognitiven Potenz. Es ist folglich nicht nur das Ende eines kurzsichtigen Entschlusses, was als Nächstes und Übernächstes zu tun sei.

Wenn wir aber grundsätzlich nicht mehr wissen, wie es insgesamt, d.h. mit uns allen, weitergeht, dann kommt nicht nur die Zeit an ihr Ende, Vielmehr beginnt dann die Unendlichkeit des sozialen Nichts: keine Pläne mehr, keine Wünsche, keine Werte, keine Leidenschaften, nichts, was uns noch irgendwie betrifft. Ein solches Nichts ist unheimlich, auf seine besondere Weise aber auch aufregend. Man kann geradezu neugierig werden auf das Nichts, weil es vielleicht die Rückgewinnung eines schon lange verlorenen Allmöglichen ist, gar die 'große Chance', wenn auch nicht des Unmöglichen. Wenn wir also das Ende der Zeit aus diesem Grunde gar erreichen wollen, dann sollten wir uns als Erstes darauf einlassen, dass wir in Wirklichkeit nicht wissen, wie es weitergeht. Das ist ein unangenehmer Gedanke. Deswegen fügen wir uns ihm nur, wenn wir uns sehr deutlichen Zeichen nähern, die uns einen Blick durch das Loch im Bretterzaum am Ende der Welt ins Nichts erlauben. Ein solcher Moment nähert sich meist, wenn die soziale Ordnung, in der wir bisher wie Schwebteilchen durch unser Leben trieben, anfangs noch mit großen Getöse, schließlich aber sang- und klanglos untergeht.

Die Fiktion der Gewissheit sozialer Ordnung

Wenn die alte Ordnung aber erst einmal verdunstet ist, gibt es kein Zurück mehr: Wir befinden uns dann in einer lichtlosen Orientierungslosigkeit, Wie Astronauten im interstellaren Raum leben wir dann bestenfalls noch von den Batterien unseres Mutes und der Hoffnung, irgendwie doch wieder eine neue Ordnung aufbauen zu können. Vielleicht ist unsere Gegenwart bereits ganz langsam, wie in unendlicher Zeitlupe, an einem solchen Ende angekommen, wie ein Zug, dem in voller Geschwindigkeit plötzlich der Antrieb ausgeht und er noch über einige Kilometer ausrollte, bis er auf einer riesigen Ebene geräuschlos zum Stehen kommt: Noch scheinen die Lampen, klingen die Gläser in den Abteilen der Waggons, glauben wir an die Menschenrechte, sind von einer besseren Zukunft überzeugt. Doch draußen herrschaft bereits die große Stille. Unsere Rückschau auf die angebliche Reise der Menschheit ins ewige Paradies auf Erden wird sinnlos, wenn man sich keinen Reim mehr darauf machen kann, wieso es überhaupt zum Heute und Jetzt kommen konnte. Plötzlich merken wird, dass wir nicht in einem luxuriösen Zug sitzen, sondern nur eine verschworene Gemeinschaft von Cliffhangern sind, die auf einem Felsüberhang tanzt, Der trägt aber nicht, sondern gibt mehr und und mehr, unendlich langsam, untergründig rumpelnd, unter unseren Füßen nach. Mit ihm verlieren wir selbst alle Form und fallen immer tiefer, bis wir irgendwann - hoffentlich - wieder aufwachen und uns auf einem ganz anderen Plateau der Weltgewissheit wiederfinden.

Tatsächlich haben schon fühere Generationen und andere Kulturen ihr jeweils eigenes Ende der Zeit erlebt. Das war meist mit großem Schrecken verbunden. Das jüngste Ereignis dieser Art dürfte die bedingungslose militärische und vor allem die moralische Kapitulation der Deutschen im Mai 1945 gewesen sein. Die christlichen Millenaristen des Hochmittelalters rechneten von vornherein ständig mit dem Weltuntergang, mit dem Jüngsten Gericht und der endgültigen Scheidung von Gut und Böse durch den neu erscheinenden Messias. Der altiranische Zoroastrismus wiederum schilderte die Weltendynamik als einen titanischen Kampf zwischen der absolut Guten und Bösen, der bislang unentschieden sei, aber auf sein baldiges Ende zusteuere. Angeblich lebten auch die mittelamerikanischen Azteken in einer solchen Ordnung des endzeitlichen Schreckens, und mancher alte, noch heute erhaltene Mythos, berühmt z.B. die Prophetie des Nostradamus, prophezeite den Untergang der Menschen, weil sie es nicht schafften, sich auf die Seite des Guten zu schlagen.

Vor der Erlösung lodert das kalte Nichts

Ecce homo, rief Nietzsche den Europäern am Ende des 19. Jahrhunderts zu. Er war in diesen Dingen ein Hellseher. Tatsächlich folgten auf ihn zwei fürchterliche Weltkriege, die keinen Stein unseres Vorstellungsgebäudes von der Welt auf dem anderen ließen. Thomas Mann hatte in seinem Zauberberg ähnliche Visionen, und Walter Benjamin verbrannte selbst schließlich im Fegefeuer des zweiten Weltkrieges, nachdem er zuvor in seinem Aufsatz Über den Begriff der Geschichte schrieb:

"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. [...] Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfanten hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Strurm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst, Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." -

Was aber, wenn es nicht einmal diesen Sturm des Fortschritts gibt? Wenn diese Einsicht um sich greift, durchbrechen wir die Schallmauer unserer alten Beschwörungen und gegenseitigen Sinneinflüsterungen und fallen in ein neues, bisher nicht ausdenkliches Nichts, ängstlich auf einen neuen Anfang der Zeiten hoffend, auf eine neue Ordnung, für die es sich wieder lohnt, ein Mensch zu sein. (ws)

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